Die japanische Tennisspielerin Naomi Osaka guckt enttäuscht zu Boden. © imago images/Xinhua

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Frank Busemann in Tokio: Nur an was Schönes denken reicht nicht

ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann kennt den Wettkampf-Druck aus eigener Erfahrung. Für eine außergewöhnliche sportliche Leistung muss auch der Kopf in Topform sein.

Simone Biles sollte der Superstar der Spiele werden. Doch die Amerikanerin verkündete ihren Verzicht und ließ ihren Mannschaftskolleginnen den Vortritt. Erst wurde über eine Verletzung spekuliert. Sie habe sich bei der Landung den Fuß vertreten. Aber es war der Kopf. Puh, könnte man denken, nur der Kopf, nichts Ernstes. Die so oft und viel beschworene Psyche. Oftmals kehrt allgemeines Unverständnis ein. Der Kopf. Da muss man einfach an was schönes Denken und dann geht es doch weiter. Und Leistungssportler können doch damit umgehen. Der Druck ist groß, aber das lernt man doch. Denkste.

Denken. Tun wir jeden Tag und manchmal raubt uns der falsche Gedanke den Schlaf. Das Denken passiert im Kopf und ist der größte Gegner. Dabei gibt es keine Schmerzrezeptoren im Hirn. Kopfschmerz ja, das hat andere Gründe, aber schnell denken verursacht keinen Muskelkater. Reißt ein Muskel, sieht man das im Ultraschall. Bricht ein Knochen, sieht man das im Röntgenbild.

Allein auf einer großen Bühne

Platzt die Seele, sind die Sportler allein. Ganz allein. Sie dürfen keine Schwäche zeigen. Sport ist auch Schauspiel. Sich selbst gegenüber. Dem Gegner sowieso. Schwächeanzeichen machen einen zur leichten Beute. Der Widersacher riecht die Chance und schlägt zu. "Ich darf nicht schwach sein", sonst verliere ich. Tennissuperstar Naomi Osaka zog sich einst nach einem Vorrundenmatch aus dem Turnier zurück. Grund: ihr mentaler Gesundheitszustand. Warum nur? Die hat doch Geld ohne Ende, sie ist erfolgreich, sie ist beliebt. Dann soll sie 'ne Woche in den Urlaub fahren und dann ist doch alles wieder gut. Warum ist man da mental müde?

Kleine Zweifel, die langsam wachsen

Es sind die Kleinigkeiten, die die Seele belasten und zerdrücken. Zweifel, die erst ganz klein sind und dann größer werden. Kann ich mein Level halten? Wie lange bin ich auf Top-Niveau unterwegs? Will ich 40 Wochen im Jahr aus dem Koffer leben? Bekomme ich die Sponsorentermine nächste Woche hin? Wann habe ich meine Freundin das letzte Mal gesehen? Was denkt mein Trainer, wenn ich hier verliere? Mögen mich die Zuschauer, wenn ich nicht gewinne? Was schreibt die Presse? Die kennen mich doch gar nicht und richten über mich! Die haben keine Ahnung, was in mir vorgeht! Aber ich will doch gewinnen! Aber kann ich das?

Ganz gleich, ob man den Anspruch sich selbst oder den der Öffentlichkeit nicht befriedigen kann, wenn ein Ungleichgewicht in der eigenen Wahrnehmung auftritt, beginnt der eigentliche Kampf. Die da draußen sehen die strahlende Siegerin. Mehr nicht. Aber jeder Superstar trägt Zweifel in sich. Jeder!

Der eine schafft es, damit umzugehen. Der andere arbeitet täglich mit den richtigen Gedanken und trainiert den einen guten Gedanken, der Überhand behalten muss. Der oder die Nächste spürt, dass er 100 Prozent leisten muss und nur zu 99 Prozent der Maschinerie Leistungssport gerecht wird. Ein Prozent. Zwischen "Alles ist gut" und "Willkommen zum Eingang der Hölle". Es sind diese Kleinigkeiten, die zwischen Platz eins und acht entscheiden. Es sind die Kleinigkeiten, die zwischen Glück vorspielen und Glück empfinden, entscheiden.

Mentale Leistungsfähigkeit das Zünglein an der Waage

Nicht umsonst ist die mentale Leistungsfähigkeit das letzte Quäntchen, das über den Sieg entscheidet, in den Fokus des Interesses gekommen. Sportler wissen, dass gut funktionierende Muskeln ohne eine gesunde Psyche nichts wert sind. Und seit einiger Zeit ist das im Bewusstsein aller angekommen. Gut geschmierte Systeme laufen, die muss man beizeiten ein wenig nachjustieren. Aber was ist, wenn aus leisen Zweifeln laute Zweifel werden?

Es beginnt eine Spirale, die oftmals nur mit dem richtigen, im Vorfeld erlernten Handwerkszeug, dann, wenn es keiner braucht und als sinnlos erachtet wird, schon erlernt und antrainiert ist. Der Fokus verändert sich. Kleinigkeiten werden zu Hürden. Probleme zu Herausforderungen. Athletinnen und Athleten sehen auf einmal Fragen, wo letzte Woche noch keine waren und der Außenstehende auch keine findet. Bagatellen nennt der Unwissende das. Für Sportler hat das andere Dimensionen. Der Lebensmittelpunkt eskaliert und die schönste Nebensache der Welt hat eine Wichtigkeit, die es eigentlich nicht wert ist.

Aber jeder bemisst seine Bedeutung in eigenen Ausmaßen und für den Topathleten ist Sport (fast) alles. Das Besondere zu finden und sich über scheinbar Belangloses zu freuen, werden unüberwindbare Barrieren zwischen Glück und Unglück. Viele Sportler können die Pforte zur Hölle verschlossen halten. Wenn sie geöffnet wird, ist das Terror für die Seele. Und die heilt bekanntlich sehr langsam.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 29.07.2021 | 00:06 Uhr

Stand: 28.07.21 17:06 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge USA USA 39 41 33
2. Flagge Volksrepublik China CHN 38 32 18
3. Flagge Japan JPN 27 14 17
4. Flagge Großbritannien GBR 22 21 22
5. Flagge Russisches Olympisches Komitee ROC 20 28 23
6. Flagge Australien AUS 17 7 22
7. Flagge Niederlande NED 10 12 14
8. Flagge Frankreich FRA 10 12 11
9. Flagge Deutschland GER 10 11 16
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