Die jamaikanische Sprinterin Shelly-Ann Fraser-Pryce (r.) lässt ihre Konkurrenz hinter sich. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Morry Gash

Die Busemann-Kolumne

Frank Busemann in Tokio: Carbon ist das Zauberwort der Zukunft

Die letzte Hundertstelsekunde rausquetschen - das wollen insbesondere die Leichtathleten. Immer auf dem Prüfstand: Material, Kleidung - und hier vor allem die Schuhe. Industrie und Sport experimentieren mit Carbon. Doch die Leistung wird immer vom Menschen selbst erbracht werden müssen, sagt ARD-Experte Frank Busemann.

Manchmal werde ich ja gefragt: Wie viele Punkte kann ein Mensch im Zehnkampf machen, oder wie schnell kann über 100 Meter gelaufen werden? 10.000 Punkte?! Unter neun Sekunden? Vielleicht acht? Bei Lichtgeschwindigkeit ist allerdings Schluss. Da bin ich mir sicher. Die Evolution hat den Menschen von der Flucht vor dem Mammut auf Rekordgeschwindigkeiten in der Gegenwart beschleunigt. Und das, ohne autonome Reserven zu aktivieren. Einfach nur so, weil er Bock hat, schnell zu laufen.

Bei Profis voll im Trend: Runningschuhe mit Carbonsohle

Aber keiner fragt mich, wann das passieren wird mit den acht Sekunden. In 100 Jahren? In 1.000 Jahren? Das weiß ich doch nicht. Bin ich ein Biologieprofessor? Und das dauert halt. Wenn es da nicht die Sportartikelhersteller gäbe. Die schlagen der normalen Entwicklung ein Schnippchen und revolutionieren die Evolution.

Carbon ist bei den Leichtathleten das Zauberwort der Neuzeit. Rekorde purzeln und ein jeder fragt sich, warum sich in diesem Tempo die Menschheit beschleunigt. Ich muss allerdings allen Freizeitoptimisten den Zahn ziehen: Es geht hier erstmal nur um die Topathleten. Ein Trabbi mit Ferrarimotor fährt auch keine 300 km/h. Na, vielleicht einmal. Das ist aber nicht gesund. Genauso wie die neuartigen Runningschuhe mit Carbonsohle. Die nehmen die Energie des Läufers auf und geben sie als "zusätzliche Kraftreserve" wieder ab. Eine Aufladung der Bewegungsenergie und Nutzung dieser. Ein kleiner Extraschub pro Schritt.

Ein Laufschuh mit einer Sohle, die teilweise aus Carbon gefertigt wurde. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Taketo Oishi

Ein Laufschuh mit einer Sohle, die teilweise aus Carbon gefertigt wurde.

Was eigentlich ganz einfach klingt, ist anspruchsvoll und anstrengend. Im Sprint- und Sprungbereich wird momentan auch an Schuhen gewerkelt. Wird der Schritt des Sprinters nur um zwei Zentimeter länger, hat er bei gleicher Frequenz fast einen Meter rausgeholt. Acht Hundertstel hören sich nicht viel an, aber pulverisieren Bestzeiten. Auch im Ausdauerbereich müssen zum Beispiel Waden, Sehnen, Bänder und Knochen diese Kraftentfaltung tolerieren können.

Das "Busemann-Brett" wäre in die Geschichte eingegangen

Vor über 20 Jahren habe ich mit meinem Ausrüster genau in diesem Bereich schon mal probiert, die kinetische Energie zu verbessern. Die Einlegesohle war so bretthart und ungeschmeidig, dass ich zwar abging wie der Raketenmann höchstpersönlich, aber auch immer drohte, aus den Schluppen rauszuflutschen.

Ein Spiel mit dem Feuer, was wir dann letztlich verwarfen. Eigentlich schade… Nach "Fosbury-Flop" oder "Gienger-Salto" wäre das "Busemann-Brett" für den Schuh in die Geschichte eingegangen. Aber ich war ja nicht der Erfinder, nur der Testhase ...

Bedingungen verbessern - und dabei legal bleiben

An allen Stellschrauben wird immerzu und jederzeit gedreht, um das kleine Quäntchen Leistung rauszuquetschen, das den Unterschied macht. Die Schwimmer hatten mal Anzüge, die ein paar Jahre erlaubt waren, bis sie wieder verboten wurden, die Triathleten hatten mal unterschiedlich große Räder und Scheiben, bis man merkte, man fährt trotzdem nicht bergrunter, und von den Parasportlern hört man auch des Öfteren von sogenanntem Materialdoping (böses Wort, was der Sache nicht gerecht wird). Es geht, wie so oft, um Verbesserung der Rahmenbedingungen zu seinen Gunsten - und dabei trotzdem legal zu bleiben. Dick Fosbury hat es schon vorgemacht, das war eine Technik, die jedem zugänglich war.

Kein Schuh rennt von allein

Im Regelwerk des Weltverbandes ist das neuartige Equipment jedenfalls explizit ange- und besprochen und in einer langen Liste aufgeführt, welcher frei käufliche Schuh erlaubt und welcher verboten ist. Man kann darüber streiten, ob diese Materialschlacht für den Sport gut ist, aber ich habe früher auch Baumwollsocken und eklig schweißdurchtränkte Stinkeshirts getragen. Es geht halt weiter, immer weiter. Und weil es keiner kontrollieren kann, nur so viel: Mit dem heutigen Equipment würde ich bestimmt 10.000 Punkte im Zehnkampf machen ... Das ist natürlich Mumpitz. Machen müssen es die Athleten immer noch selbst. Kein Schuh rennt von allein und kein Anzug schmeißt Speere weg ...

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 30.07.2021 | 23:55 Uhr

Stand: 31.07.21 09:49 Uhr