Tokyo Skytree mit den paralympischen Symbolfarben beleuchtet. © IMAGO / AFLO Foto: Ken Asakura

Fazit

Paralympics trotzen Corona - deutsche Bilanz fällt durchwachsen aus

von Florian Neuhauss

Paralympische Spiele ohne Zuschauer - für die Athleten in Tokio trotzdem ein Highlight. Doch im deutschen Lager wird einiges auf den Prüfstand kommen. Die Bilanz der Spiele in Japan.

Die Fremdenführer legen sich an diesem Morgen mächtig ins Zeug. "Und auf der linken Seite können Sie nun den Tokio Skytree sehen", sagt Reiseleiterin Yuka. Das Problem: Mehr als ein paar Meter weit kann man gar nicht nach oben gucken. Dichter Nebel umhüllt den Turm, der 634 Meter in den Himmel ragt. Und auch an den Aussichtspunkten auf über 400 Metern Höhe ist nichts zu sehen. Wo normalerweise die beeindruckende Skyline der größten Stadt der Welt zu bewundern ist, bleibt nur der Blick ins schier undurchdringliche Grau.

Eine Szene mit Symbolcharakter: Eigentlich wollte sich Japan bei Olympia und Paralympics als weltoffene Stadt präsentieren. Doch die Coronavirus-Pandemie sorgte erst für eine Verschiebung beider Veranstaltungen um ein Jahr - und dann mussten die Spiele unter Ausschluss von Zuschauern ausgetragen werden. "Das kennen wir ja leider fast nicht anders", meinte Weitsprung-Paralympicssieger Markus Rehm.

Bitter genug, dass die Sportler und Sportlerinnen mit Behinderung nur alle vier Jahre - Corona-bedingt dieses Mal fünf - die große Bühne bekommen, die ihre Leistungen verdienen. Aber weil in Tokio schon vor den Spielen der Notstand bis zum 12. September verlängert worden war, sorgten in den Stadien und Hallen allenfalls Betreuer und Teammitglieder für ein bisschen Stimmung. Und gleichzeitig breitete sich das Coronavirus immer weiter aus. Rund 20.000 Neuinfektionen meldeten die Japaner täglich, in Tokio stieg die Gesamtzahl auf über 350.000. Allerdings: Wie schon bei Olympia hielt die Blase auch bei den Paralympics erstaunlich gut dicht.

Metropolen als Gastgeberstädte mit Vor- und Nachteilen

Einer der wenigen Fans in Tokio, stets mit einer Deutschland-Fahne unterwegs, war Friedhelm Julius Beucher. Dem Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) missfielen die langen Strecken, die in der Metropole zwischen den Stadien und Hallen zurückgelegt werden mussten. Fünf bis acht Stunden habe er täglich im Auto zugebracht, erklärte der 75-Jährige. Das ausgegebene Ziel der Nachhaltigkeit auch in Sachen Verkehr durch Zentrierung der Wettkampfstätten sei "Lügen gestraft" worden.

Auf der anderen Seite könnten Olympische und Paralympische Spiele dann gar nicht mehr in Großstädte vergeben werden. Ein Olympic Park lässt sich kaum irgendwo zentral verwirklichen, wo viele Menschen leben. Probleme beim Transport der Teilnehmenden werden sich wohl nie ganz ausschließen lassen. Und zur Nachhaltigkeit gehört es auch, möglichst bestehende Sportstätten zu nutzen. Schon so rechnen Experten mit Gesamtkosten für Japan in Höhe von über 30 Milliarden Euro.

Wie immer ist angekündigt worden, die von allen Seiten als erstklassig bezeichneten Sportstätten auch in Zukunft zu nutzen. Anders als es in Brasilien dann war, erscheint dies in Japan gut möglich. Die ursprünglich mehreren Millionen Kartenanfragen für die Paralympics belegen eindrucksvoll die Sportbegeisterung im Land.

Deutsche "Goldraketen" zünden mit Anlauf

Nachdem die Paralympics aus deutscher Sicht sehr schleppend begonnen hatten, konnte sich nicht nur Fan Beucher darüber freuen, dass nach und nach "die Goldraketen gezündet worden sind".

Die deutsche Para-Athletin Lindy Ave bejubelt ihre Goldmedaille über 400 Meter. © IMAGO / Beautiful Sports

Lindy Ave Lief über 200 m in Weltrekord zum Paralympics-Sieg.

Die größte Medaillensammlung kommt traditionell aus der Leichtathletik (15). Markus Rehm, Johannes Floors und Felix Streng, überraschend aber auch Lindy Ave haben sich in herausragender Form präsentiert. Ave lief ganz zum Schluss auch noch den langersehnten ersten deutschen Leichtathletik-Weltrekord bei den Spielen. "Wir haben weniger Gold als in Rio gewonnen. Aber ich bin trotzdem sehr zufrieden, die Konkurrenz wird eben immer stärker", sagte Marion Peters.

Der Bundestrainerin sind allerdings nicht nur die ganz großen Triumphe wichtig, "die werden ja eh gefeiert". Besondere Freude haben ihr auch die Youngster wie Lise Petersen, Yannis Fischer und Merle Menje gemacht. Gerade Letztere, die 17 Jahre alte Rennrollstuhlfahrerin, zeigte unter anderem mit zwei vierten Plätzen bei ihrem Debüt bärenstarke Spiele: "Wie Merle hier gefahren ist, mit so wenig Angst - die hat nur gewonnen."

Radsportler so schlecht wie seit 17 Jahren nicht

Die deutsche Para-Radsportlerin Jana Majunke in Aktion © picture alliance/dpa | Marcus Brandt

Radsportlerin Jana Manjunke gewann am Mount Fuji gleich zweimal Gold.

Mit einem Dutzend Medaillen kehren die Radsportler wieder nach Deutschland zurück. Was auf den ersten Blick nach einer guten Ausbeute aussieht, ist auf den zweiten Blick die schlechteste seit Athen 2004. In Rio waren es allein acht goldene gewesen, diesmal waren es drei. Auf der Bahn gab es überhaupt nur eine Podestplatzierung.

"Es ist insgesamt ganz gut gelaufen", erklärte Jana Majunke schlicht nach ihrer zweiten Goldmedaille fernab von Tokio am Mount Fuji. Annika Zeyen, mit Gold und Silber ebenfalls hochdekoriert, ging deutlich mehr aus sich heraus: "Das ist unglaublich. Gegen die Athletinnen, die von ihrer Behinderung her deutlich weniger eingeschränkt sind, fühlt sich auch die Silbermedaille wie Gold an. Dass es so toll gelaufen ist, freut mich sehr."

Tischtennis: Baus bricht chinesische Dominanz

Abgeliefert haben wie schon vor fünf Jahren auch die Tischtennis-Asse - sie waren meist nur von den traditionell übermächtigen Chinesen aufzuhalten. Besonders die Leistung von Valentin Baus ist herauszustellen. Der Tischtennisspieler im Rollstuhl hatte in Rio noch Silber gewonnen. Dieses Mal bezwang er im Finale den Chinesen Ningning Cao. Ganz nah dran an der Sensation waren auch Thomas Schmidberger und Thomas Brüchle im Team, sie gaben gegen China noch Gold aus der Hand.

Starkes Comeback für deutsches Schwimmteam

Erstmals seit neun Jahren gab es wieder Paralympics-Gold für Deutschland im Schwimmen - und das gleich doppelt. Taliso Engel sowie Elena Krawzow siegten über 100 Meter Brust - und machten Bundestrainerin Ute Schinkitz "mega stolz". Aber nicht nur das Gold-Duo, auch andere Teammitglieder waren auf den Punkt in Höchstform. Verena Schott holte gleich dreimal Bronze, dazu purzelten Bestzeiten wie bei Josia Topf. Und das, obwohl die Klassifizierung einmal mehr für Verdruss gesorgt hat. Topf selbst prangerte die Umstände seiner Klassifizierung öffentlich an.

"Es war nicht überraschend, dass wir in Rio keine Goldmedaille geholt haben. Wir hatten dann Geduld und haben auf die Nachwuchsarbeit gesetzt. Wir haben es fast zu 100 Prozent hinbekommen", freute sich Schinkitz.

Keine Medaille in Mannschaftssportarten

Bei den Paralympics setzte sich ein Trend von Olympia fort: In den Mannschaftssportarten scheinen andere Nationen Deutschland enteilt. Die Goalballer konnten die selbst geweckten Erwartungen nicht erfüllen. Statt der angepeilten Medaille gab es das Aus nach der Vorrunde. Für die Sitzvolleyballer wurde es am Ende Rang sechs. Goalballerinnen waren genauso wenig dabei wie Sitzvolleyballerinnen. Im Blindenfußball und Rollstuhlrugby war Deutschland ebenfalls gar nicht vertreten.

Zu überzeugen wussten in Tokio einzig die Rollstuhlbasketballerinnen. Ihren Siegeszug stoppte im Halbfinale erst Weltmeister Niederlande. Nach dem Tiefschlag rappelte sich das Team von Dennis Nohl allerdings nicht wieder auf, sondern ging auch im Spiel um Bronze leer aus. Das Männerteam überstand zwar die schwere Gruppe mit den ersten vier Teams der vergangenen WM, wurde am Ende allerdings trotzdem nur Siebter.

Paralympics in Tokio kaum wahrzunehmen

In Tokio selbst tauchten die Paralympics kaum im Stadtbild auf. An den Laternenpfählen baumelten an einigen Orten Paralympics-Fähnchen, immer noch zusammen mit den olympischen Ringen. Vereinzelt hatten auch Geschäfte entsprechend dekoriert, an einem Kaufhaus prangten in der Innenstadt riesige Banner, auf denen Japans Paralympics-Stars gezeigt wurden. Fast ein bisschen versteckt war das Logo des IPC in der Stadt aufgestellt. Am vorletzten Tag der Paralympics schienen Passanten immer noch überrascht, das Logo an einer Brücke stehen zu sehen und machten Fotos. Immerhin hatte der öffentlich-rechtliche Fernsehsender NHK täglich lange Sendestrecken zu den Spielen im Programm.

Gastfreundlichkeit contra Regelungswut

Wie schon während der Olympischen Spiele sorgte eine Frau mit selbstgemalten Schildern vor dem paralympischen Dorf für die tägliche Motivation. Überhaupt präsentierten sich die freiwilligen Helfer als sehr gute Gastgeber. "Alle sind unwahrscheinlich freundlich, eine Freundlichkeit, die beispielgebend ist", lobte DBS-Präsident Beucher, dem aber auch die bekannte japanische Regelungswut zu schaffen machte: "Sie entscheiden nicht selbst, sondern rufen lieber vier Leute an, um eine Entscheidung zu bekommen, die dann doch nicht kommt."

Ob Parkplatzanweiser, die auf genau zugewiesene Plätze beharrten, obwohl weit und breit kein zweites Auto zu sehen war. Oder einige hundert Meter lange Umwege, weil irgendjemand festgelegt hat, dass durch das große offene Tor keine Fußgänger, sondern nur Autos durften. Alles muss seine Ordnung haben.

Paralympisches Dorf von besonderer Bedeutung

Umso wichtiger war einmal mehr das gemeinsame Paralympics-Erlebnis im Dorf. "Ich bin vollkommen begeistert und freue mich über die vielen Eindrücke, die ich hier im Dorf bekomme", sagte Schwimmer Topf. Badminton-Spielerin Valeska Knoblauch freute sich: "Wann hat man schon mal die Chance, so viele Athleten aus so vielen unterschiedlichen Ländern zu treffen. Das ist sehr beeindruckend." Und Rennrollstuhlfahrerin Menje fügte hinzu: "Das Dorf ist schon toll, es macht sehr viel Spaß, hier zu sein."

14 Medaillen weniger als in Rio

Beucher hat angekündigt, dass nach den Spielen "mit den Sponsoren, mit dem deutschen Bundestag und mit der deutschen Sporthilfe" sportlich Bilanz gezogen werden muss. Natürlich geht es ums Geld: "Wir müssen uns ehrlich in die Augen gucken und sagen, was noch geht." Aber auch die Arbeit in den einzelnen Sportverbänden und die Förderkonzepte sollen auf den Prüfstand gestellt werden.

Der deutsche Para-Triathlet Martin Schulz küsst bei der Siegerehrung die Goldmedaille. © picture alliance/dpa Foto: Karl-Josef Hildenbrand

Martin Schulz gewann in Tokio souverän das Triathlon-Rennen.

Große Investitionen wie in China oder auch in Großbritannien zahlen sich in Form von Medaillen aus. Auch Italien, die Ukraine, die Niederlande oder Aserbaidschan sind vor Deutschland im Medaillenspiegel gelandet. Die angepeilte Top-Ten-Platzierung wurde als Zwölfter knapp verpasst. Den 57 Medaillen (18/25/14) von Rio stehen 43 (13/12/18) in Tokio gegenüber, die mit einem kleineren, aber auch verjüngten Team geholt worden sind. Auch deshalb betonte DBS-Präsident Beucher: "Das ist wirklich eine stolze Zahl. Darauf kann man stolz sein." Zumal er darum warb, bei der Bewertung nicht nur die Podestplätze zu zählen. Auch dahinter seien Weltklasse-Leistungen erbracht worden.

Ist die Förderung ausreichend?

"Ob es in Zukunft bei dieser Leistungsexplosion, die wir hier bei den Paralympics erleben von den anderen Nationen, noch möglich ist, den Sport neben Studium und Beruf zu betreiben, wage ich zu bezweifeln", blickte Beucher voraus. Dank der staatlichen Unterstützung müsse immerhin schon niemand mehr voll arbeiten. "Wir sind da einen riesigen Schritt weitergekommen. Aber wir müssen nach den Paralympics bilanzieren, ob die Förderung ausreichend ist."

Inspiration für Generationen

Trotz vieler Widrigkeiten waren sich die Sportlerinnen und Sportler in Tokio einig, dass es richtig war, die Spiele auszutragen. Die Verschiebung hatte den meisten ohnehin schon genug abverlangt. Eine Absage hätte große Träume platzen lassen.

Goldmedaillengewinner Martin Schulz musste nicht mal auf Zuschauer verzichten. "Dass doch so viele Menschen an die Strecke gekommen sind, hat mich unglaublich gepusht", sagte der Triathlet. "Ich habe viele Kindergesichter strahlen sehen. Sport inspiriert Generationen und bringt Kinder dazu, Sport zu treiben."

Abschied aus Tokio - Wiedersehen in Paris

Anstatt der Stadt aber einen wirtschaftlichen Schub durch hunderttausende Touristen zu verschaffen, ist Tokio auch zum Ende beider Großveranstaltungen noch in der Corona-Starre. Eine Reiseleiterin erzählte, dass sie zu Olympia und Paralympics diesen Job bekommen habe. Wie es für sie danach weitergehe, wisse sie nicht.

"Wir würden uns freuen, wenn Sie Tokio noch einmal besuchen würden", sagt Megumi vom Personal im Skytree, der vom 1. April 2019 bis zum 31. Mai 2020 3,6 Millionen Besucher verzeichnete. "Und kommen Sie bitte auch zum Skytree - im Winter hat man den schönsten Blick."

Ob Tokio dann die Corona-Pandemie - oder auch nur die Welle - überwunden haben wird, ist noch nicht abzusehen. Die aktuellen Maßnahmen im Notstand scheinen dafür nicht auszureichen. Fest steht nur, dass für viele der paralympischen Athleten mit der Abreise aus Japan bereits die Vorbereitung auf die Spiele 2024 in der französischen Hauptstadt begonnen hat. In Paris sollen auch die Paralympics wieder in ihrem vollen Glanz erstrahlen.

Erfolge

Die deutschen Medaillengewinner von Tokio

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Paralympics Tokio 2020 | 04.09.2021 | 09:00 Uhr

Stand: 05.09.21 08:50 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge Volksrepublik China CHN 96 60 51
2. Flagge Großbritannien GBR 41 38 45
3. Flagge USA USA 37 36 31
4. Flagge Russisches Paralympisches Komitee RPC 36 33 49
5. Flagge Niederlande NED 25 17 17
6. Flagge Ukraine UKR 24 47 27
7. Flagge Brasilien BRA 22 20 30
8. Flagge Australien AUS 21 29 30
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12. Flagge Deutschland GER 13 12 18
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