Athletinnen in Aktion © picture alliance / Newscom | Kim Price

Die Busemann-Kolumne

Frank Busemann in Tokio: Leichtathletik-Bilanz mit "gemischten Gefühlen"

Der ARD-Experte und Ex-Zehnkämpfer war bei den olympischen Leichtathletik-Wettbewerben mit ganzem Herzen dabei. So fällt sein Fazit für das deutsche Team aus.

Das waren sie, die XXXII. Sommerspiele der Neuzeit. Im deutschen Team mit über 400 Sportlerinnen und Sportlern befanden sich fast 90 Leichtathletinnen und Leichtathleten. Eine der Kernsportarten steht immer im besonderen Fokus des Interesses. Der Druck, der auf den Schultern der Athletinnen und Athleten lastet, ist enorm. Dennoch konnte man spüren, dass alle Mannschaftsmitglieder erleichtert und stolz waren, in der schwierigen Zeit während der Corona-Pandemie ein Teil dieser Mannschaft zu sein. Den Widrigkeiten zum Trotz versuchte ein jeder seine beste Leistung einzubringen.

In Tokio erlebten wir drei Leichtathletik-Weltrekorde, bei denen immer wieder nach den Gründen gesucht wurde. Die schnelle Bahn war sicherlich ein Grund, neben der Weiterentwicklung neuartiger Schuhe mit integrierter Carbonsohle und der zurückliegenden Zeit rund um die Pandemie, die viele Sportler zur breitangelegten Aufbereitung und Rekonvaleszenz sowie solider Basislegung zur Entwicklung der Form nutzen konnten. Aber natürlich muss man auch in die Richtung denken, dass einige Athleten die Zeit anders nutzten.

Sprint: Vielversprechender Blick in die Zukunft

Im deutschen Team gab es neben der noch sehr neuen Disziplin der Mixedstaffel keine neue deutsche Bestleistung, was auch an der langen Tradition und dem hohen Stellenwert der Sportart liegt - und der Neuartigkeit der Mixedstaffel. Diese durchlebte ein Wechselbad der Gefühle und konnte im Finale nach einem Sturz leider nicht an ihren guten Vorlauf anknüpfen.

Im Sprintbereich dominieren international erfahrungsgemäß die Sprinterinnen und Sprinter aus den USA und Jamaika. In Tokio konnten wir eine überaus schwache Performance der Amerikaner beobachten. Die deutschen Sprinter bewegten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, stachen aber im Kollektiv hervor, indem sie im Vorlauf nur vier Hundertstelsekunden über dem deutschen Rekord blieben. Die Finalteilnahme mit Platz sechs war sehr zufriedenstellend, zeigt aber auch, dass Zeiten unterhalb des deutschen Rekords verlangt werden, um weiter vorn mitzurennen. Die junge Garde nach Routinier Julian Reus hat die Zukunft vor sich und wird die beiden Staffelrennen von Tokio als Erfahrung nutzen.

Bei den Frauen gefiel vor allem Alexandra Burghardt, die schon im Vorlauf bei leichtem Gegenwind glänzte und das in einem starken Halbfinale noch einmal bestätigte. Sie hat bewiesen, dass sie auch unter Druck mit starken Konkurrentinnen ihre Leistung abrufen kann. Tatjana Pinto bestätigte im Vorlauf mit einem großen Q die aufstrebende Form und rechtfertigte ihre Nominierung. Die jungen Wilden im Frauenbereich müssen mit ihrer Leichtigkeit und Freude da weitermachen, wo sie in Tokio begonnen haben.

Die deutsche Staffel mit Gina Lückenkemper (l-r), Rebekka Haase, Alexandra Burghardt und Tatjana Pinto stehen nach dem Lauf zusammen © dpa-Bildfunk Foto: Michael Kappeler

Die deutsche Frauen-Staffel sprintete auf Rang fünf.

In der Staffel wurden nach dem Vorlauf die Hoffnungen auf die Medaillenchance genährt, die dann im Finale einer leichten Ernüchterung wich. Kein Quartett der starken Nationen machte einen Fehler und so landete die deutsche Staffel auf einem soliden fünften Platz, wobei sich herausstellte, dass es nach dem Finale noch erheblichen Redebedarf des Teams gibt.

Bei den Kurzhürden sahen wir mit Gregor Traber und Ricarda Lobe leider nur jeweils einen Vertreter/-in im deutschen Trikot. Beide schieden im Vorlauf aus und konnten nicht in die Vorentscheidung eingreifen. Überraschend war auch, dass der Überflieger der letzten zwei Jahre, Grant Holloway, Nerven zeigte und "nur" Silber gewann. Er knüpfte an die ungewohnt schwache Leistung der US-Sprinter an - wobei es schon dekadent ist, bei einer Silbermedaille von Scheitern zu sprechen.

Die 400 Meter Hürden machten in beiden Geschlechtern in diesem Jahr vierfach Spaß, da alle deutschen Athleten und Carolina Krafzik beherzte Rennen zeigten und sicher ins Halbfinale einzogen. Besonders hervorzuheben waren die tollen Bestleistungen von Krafzik und Luke Campbell - der erst Saison- und dann noch Bestleistung lief -, die im Kampf der späteren Weltrekordspektakel eine super Figur machten.

Die Langsprintstaffeln schafften es leider nicht, die internationale Durststrecke zu überwinden und ins Finale einzuziehen. Die Athletinnen und Athleten kämpften aufopferungsvoll, dennoch zeigte sich einmal mehr, dass die Spitze weit enteilt ist.

Lauf: Jonathan Hilberts Geher-Gold strahlt besonders hell

Wer hätte gedacht, dass die deutsche Medaille im Langstreckenbereich von Jonathan Hilbert über 50 Kilometer Gehen gewonnen wird? Taktisch klug, weitsichtig und bärenstark marschierte er nach 3:50:44 Stunden als Silbermedaillengewinner über die Ziellinie. Schon im Vorfeld konnte man leise Hoffnungen wecken, da er als vierter der Weltbestenliste anreiste, aber Vorleistung und Olympiarennen sind immer noch zweierlei. Im Laufbereich muss traditionell einiges zusammenkommen, wenn das deutsche Team eine Medaille gewinnen will. Hilbert hat einmal mehr gezeigt, dass alles möglich ist - er gewann für Deutschland das erste Edelmetall seit 21 Jahren in diesem Disziplinblock. Das gute Gesamtergebnis der Geher komplettierte der erfahrene Christopher Linke mit dem fünften Platz über die 20 Kilometer Distanz.

Jonathan Hilbert aus Deutschland feiert seinen zweiten Platz im 50km Gehen mit einem Schrei © dpd-bildfunk Foto: Shuji Kajiyama

Jonathan Hilbert sorgte für die einzige deutsche Leichtathletik-Goldmedaille in Tokio.

Über die 800 Meter feierte Katharina Trost mit der Zwischenlaufteilnahme ein solides Ergebnis und blieb vollends im Rahmen der Erwartungen.

Über die 1.500 Meter tat es ihr Caterina Granz gleich und zog mit Saisonbestleistung ebenso wie Robert Farken bei den Männern mit einem kontrollierten und sicheren Lauf in die Runde der letzten 24 ein.

Für den jungen Dortmunder Mohamed Mohumed waren die 5.000 Meter bei diesen Olympischen Spielen noch eine Nummer zu groß, aber er wird viel Erfahrung mitnehmen und uns in Zukunft noch viel Freude bereiten.

Eine der erfahrensten und erfolgreichsten Athletinnen im deutschen Team ist zweifelsohne Gesa Krause, die immer mit großen Erwartungen ins Rennen geschickt wird. Platz fünf ist solide, aber letztlich spekuliert bestimmt auch sie insgeheim immer auf eine Medaille, wobei die Luft in diesen Gefilden dünn und dünner ist und es nie ein Selbstläufer wird. Mit einem beherzten Endspurt korrigierte sie das Ergebnis deutlich zu ihren Gunsten.

Gesa Krause macht es vor, dass auch deutsche Athleten in diesem Bereich erfolgreich sein können, aber mehr Profi als sie geht nicht. Das ist mit einem hohen ideellen, finanziellen und personellen Aufwand verbunden. Sie leistet ihn und bekommt etwas zurück.

Auf der längsten Stadiondistanz, den 10.000 Metern der Frauen, zeigte Konstanze Klosterhalfen nach einer durch Verletzungen hervorgerufenen sehr kurzen Trainingsphase als Achtplatzierte ein tolles Rennen ganz knapp über ihrem deutschen Rekord.

Im Marathon der Frauen zeigte Melat Kejeta mit einem sechsten Platz die stärkste Leistung seit 1996, als die heutige Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig in Atlanta Vierte wurde. Ein kleines bisschen Wehmut kam im Ziel trotzdem auf, da sie in die Medaillenvergabe aufgrund hitzebedingter Magenprobleme nicht mehr eingreifen konnte. Auch bei den Herren herrschten hohe Temperaturen und machten das Rennen zur Tortur.

Sprung: Mihambo nervenstark - Hoffen auf Paris 2024

Im Sprung lagen alle Hoffnungen auf der Weltmeisterin Malaika Mihambo und sie hat in einem dramatischen und hochklassigen Weitsprung-Finale geliefert. In einer der knappsten Entscheidungen ging sie als verdiente Siegerin hervor und krönte sich zur Kaiserin von Tokio. Weitspringer Fabian Heinle zeigte in der Qualifikation mit Saisonbestleistung eine aufstrebende Form. Er war gut präpariert und dankbar, dass er im letzten Moment über das Worldranking die Einladung nach Tokio erhielt.

Im Dreisprung kamen leider keine deutschen Athletinnen oder Athleten ins Finale und konnten somit nicht in die Entscheidung eingreifen, die bei den Frauen vom neuen Weltrekord von Yulimar Rojas überstrahlt wurde.

Im Hochsprung der Frauen gefiel nach langer Leidenszeit und einem großen Q in der Quali Marie-Laurence Jungfleisch. Als Zehnte im Finale war sie nicht ganz zufrieden, sie muss sich aber mit der Vorgeschichte nicht grämen.

Für die beiden anderen Deutschen, Imke Onnen und Europameister Mateusz Przybylko, war leider in der Qualifikation Schluss.

Die drei deutschen Stabhochspringer brachten mit einem neunten und elften Platz ein solides Ergebnis mit nach Hause. Dennoch waren die Hoffnungen ein wenig höher angesetzt. Wir hoffen auf die Spiele in drei Jahren in Paris, wenn die Erfahrung aus Tokio eingebracht werden kann.

Wurf: Pudenz überrascht - und Vetter stürzt ab

Oftmals musste es der Bereich Wurf richten, wenn der Medaillenspiegel aufpoliert werden musste. Auch in diesem Jahr waren die Werfer am Großteil der Ausbeute beteiligt. 

Im Diskuswerfen zeigte Kristin Pudenz mit einer wahren Meisterleistung ihre Fähigkeiten in Physis und Psyche. Schnell und gut im Wettkampf angekommen, zeigte sie nach Wolkenbruch und Unterbrechung, dass auch mit ihr nach diesen Spielen zu rechnen ist. In Tokio wurde Pudenz mit Silber belohnt - und sie zeigte mit Bestleistung, dass man zum Saisonhöhepunkt auch unter widrigsten Bedingungen punkten kann.

Bei den Herren standen Daniel Jasinski und Clemens Prüfer im Finale, kamen aber im großen Stadion dann nicht an ihre Vorleistungen heran. Dennoch war es für Jasinski nach langer Leidenszeit ein annehmbares Ergebnis, was er sicherlich hätte toppen wollen. Und für Prüfer war es ein weiterer Schritt in Richtung zukünftige Finals.

Die größten Dramen spielten sich bei den sonst so erfolgsverwöhnten Speerwerfern und Speerwerferinnen ab. Der haushohe Favorit Johannes Vetter kam mit der Anlage nicht zurecht und musste seinen Traum vom Olympia-Gold nach dem Vorkampf beenden. Christin Hussong zeigte ihren schlechtesten Saisonwettkampf, brachte den Speer einfach nicht zum Fliegen und schied als Neunte ebenfalls aus. In die Bresche sprang Julian Weber, der mit Saisonbestleistung einen hervorragenden vierten Platz belegte, der bei Olympia natürlich immer undankbar ist.

Im Kugelstoßen fehlen die Namen David Storl, der verletzt nicht in Tokio dabei war, und Christina Schwanitz in den Medaillenrängen. Die beiden Überflieger haben in den vergangenen zehn Jahren verschmerzen lassen, dass die Breite hinter ihnen dünn besetzt ist. Dennoch hat in Tokio Sara Gambetta mit Bestleistung einen hervorragenden achten Platz belegt. Mehr geht nicht. Schwanitz, die in der Qualifikation ausschied, hatte sich ihre letzten Spiele sicherlich anders vorgestellt.

Im Hammerwurf konnte und musste Tristan Schwandke nicht in die Polen-Show eingreifen. Er war mit dem Auftritt zufrieden, konnte seine technischen Fähigkeiten in Tokio aber (noch) nicht abrufen.

Mehrkampf: Dieses Mal weit, weit weg von den Medaillen

Der Mehrkampf etablierte sich in den vergangenen Jahren zum Medaillengaranten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Kaum zu glauben, aber wahr. Niklas Kaul, Rico Freimuth, Arthur Abele, Paul Schrader, Kai Kazmirek, Carolin Schäfer, Jennifer Oeser, Lilli Schwarzkopf - alles international dekorierte Athletinnen und Athleten. Schäfer kämpfte um jeden Punkt und belegte bei ihrem Saisondebüt einen guten siebten Platz, der mit einem vernünftigen Weitsprung um einiges hätte aufpoliert werden können. Das ist aber die Krux am Mehrkampf, dass unterwegs immer was passieren kann.

So, wie bei Kaul, als jüngster Weltmeister aller Zeiten musste in seinem ersten olympischen Zehnkampf leider verletzt aufgeben, was besonders bitter ist, da er sich mit neuer persönlicher Bestleistung im Hochsprung gerade anschickte, das Feld von hinten aufzurollen. Kazmirek, der Olympia-Vierte von Rio, kam leider nie richtig in den Wettkampf und musste Tokio als 14. verlassen.

Leistungen des DLV-Teams unter dem Strich für Olympia zu wenig

Diese Olympischen Spiele haben uns einmal mehr gezeigt, dass die anderen Nationen uns teilweise stetig entschwinden. In einem Team von fast 90 Sportlerinnen und Sportlern gibt es immer wieder Überraschungen und vermeintliche Enttäuschungen. Wie können wir es schaffen, dass Sportler bestens vorbereitet in diese großen Meisterschaften gehen? Von 65 Einzelstartern sahen wir drei Medaillen, aber nur acht Saisonbestleistungen und fünf persönlichen Bestleistungen. Das ist für Olympia zu wenig.

Natürlich ist es schwer, auf den Punkt seine Topleistungen zu zeigen, aber das ist der Sport. Große Nationen wie die USA waren schon immer - auch für andere - außer Reichweite. Aber auch die mussten in Tokio Federn lassen und blieben nach den unglaublichen Trials insgesamt weit unter den Erwartungen. Aber auch Länder wie die Niederlande oder die Italiener schaffen es Topleistungen zu entwickeln.

Die Professionalisierung des Leistungssports wird immer ausgeprägter und die Stellschrauben, die international gedreht werden, müssen Vorbild und Abbild für nationale Spitzenleistungen sein. Wettkampferfahrung wird im DLV ernst genommen, indem jungen Athleten Chancen bekommen und Normerfüller mitgenommen wurden. Gewachsene Strukturen - wie das Collegesystem mit dem tiefgreifenden Patriotismus der Amerikaner - sind nicht zu kopieren, aber wir erleben immer wieder Nationen, die Reformen auf den Weg bringen und dann ernten.

Erfolg kostet Geld - und das muss investiert werden

Aber Erfolg kostet Geld und das ist in Deutschland scheinbar nicht da. Zumindest nicht für den Sport. Ein Olympiasieger in Frankreich erhält 65.000 Euro, in Italien sogar 180.000 Euro. In Deutschland sind es gerade Mal 20.000 Euro. Leistungen zu entwickeln bedarf einer großen Vorlaufzeit, dafür müssen professionelle Strukturen geschaffen werden und die nötige Begleitung da sein.

Johannes Vetter zum Beispiel pflegt seinen Körper mit immensem zeitlichen und finanziellen Aufwand und Gesa Krause ist auf der Welt zu Hause. Viel Aufwand, der letztlich über Gold, Silber, Bronze und nur Mitfahren entscheidet. Bei Vetter konnte der Einsatz in Tokio nicht in Leistung abgelesen werden, auch das passiert im Sport. Die Athletinnen und Athleten in Tokio waren für ihre Verhältnisse bestens präpariert, aber dennoch würden mit einer zusätzlichen Professionalisierung,

Zentralisierung, Hinzuziehung diverser Fachleute, Bündelung aller Kräfte und weiterer Faktoren auch langfristig bessere Leistungen erzielt werden können. Unser vermeintlich "kleiner" Nachbar an der Nordsee, die Niederlande, macht es vor. Geld schießt hier zwar keine Tore, aber Geld bereitet den Weg zur nächsten, planbaren Stufe. Und das ist teuer. Aber würde dann gehen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 08.08.2021 | 23:50 Uhr

Stand: 08.08.21 02:57 Uhr