Die Athleten des Zehnkampfs posieren für ein Gruppen-Foto an den Olympischen Ringen. © dpa-Bildfunk Foto: Morry Gash/AP/dpa

Bilanz

Olympia in Tokio: Corona, Hitze und Höchstleistungen

von Matthias Heidrich

Die Olympischen Spiele in Japan sind vorbei - ein Jahr später als geplant. Sie waren geprägt von der Corona-Pandemie. Tokio hat unter den wohl schwierigsten Bedingungen der Olympia-Geschichte trotzdem geliefert. Ebenso wie viele Athleten, die in der Hitze Höchstleistungen vollbrachten. Eine Bilanz.

"Schneller, Höher, Stärker - Gemeinsam." Kurz vor Beginn der Spiele von Tokio hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) das uralte olympische Motto aufpoliert. "Gemeinsam" hatte Gründervater Pierre de Coubertin 1894 noch nicht auf der Rechnung gehabt. Eine Pandemie schon gar nicht.

Knapp 130 Jahre später ist die Welt allerdings eine andere. Das Coronavirus hat den Globus im Griff und die umstrittenen Spiele in Japans Millionen-Metropole geprägt. Notstand, täglich steigende Infektionszahlen, Bedenken in der Bevölkerung: Die Gastgeber mussten einen Spagat hinlegen und schufen eine Olympia-Blase mit "Überwachungs-App", täglichen Tests und jeder Menge Corona-Verhaltensregeln.

"Es ist egal, dass es Corona-Spiele sind. Es ist egal, dass wir Masken tragen. Die Emotionen sind die gleichen. Der Wert ist der gleiche." Olympiasiegerin Aline Rotter-Focken

"Gemeinsam" klingt gut, war in Tokio aber schwierig. Corona war allgegenwärtig bei diesen denkwürdigen Spielen. 430 Corona-Fälle verzeichneten die Organisatoren bis Sonntag (08.08.2021) in Verbindung mit Olympia. Zahlreiche Träume platzten. Einige Athleten fanden sich nicht auf dem Podium, sondern in einem trostlosen Quarantäne-Hotel wieder. "Ein Albtraum", wie es der betroffene Radprofi Simon Geschke beschrieb.

Schöne Stadien ohne Zuschauer - ein Jammer

Es gab Proteste vor und auch während der Spiele, gleichzeitig waren bei vielen Japanern Freude und Stolz über die Ausrichtung der zweiten Olympischen Spiele nach 1964 spürbar. Sie hatten alles perfekt hergerichtet und konnten dann doch nur dabei sein statt mittendrin. Zuschauer waren nur an ganz wenigen der wunderbaren Wettkampfstätten erlaubt. Ein Jammer für die sportbegeisterten Japaner und die Athleten, die sich damit arrangierten. Mehr aber auch nicht.

Durchwachsene Medaillenbilanz fürs deutsche Team

Mit zehn Mal Gold, elf Mal Silber und 16 Mal Bronze landete das deutsche Team auf Platz neun des Medaillenspiegels. Insgesamt sprangen in Tokio 37 Medaillen heraus. Weniger als im Vergleich zu Rio 2016 (Rang fünf, 17 - 10 - 15) und London 2012 (Rang sechs, 11 - 20 - 13). "Unser Ergebnis ist vergleichbar, aber am Ende eben doch ein wenig schwächer", sagte Chef de Mission Dirk Schimmelpfennig. Von den Finalplätzen her sei die Ausbeute "ein klein wenig besser" als in Rio gewesen, aber man habe seltener den Sprung aufs Podium geschafft. "Wir müssen die Finalplätze noch stärker in den Mittelpunkt stellen und das auch Richtung Paris schon ausgeben", so Schimmelpfennig.

Viel Frauenpower made in Germany

Pierre de Coubertin war bis zu seinem Tod 1937 der Meinung, die Olympischen Spiele sollten vor allem als Nachweis männlicher Leistungsstärke dienen. Dem deutschen Team war das 2021 zum Glück herzlich egal. Sieben der zehn Goldmedaillen wurden von Athletinnen der 432-köpfigen Mannschaft gewonnen. Frauenpower made in Germany.

Die Gold-Reiterinnen Jessica von Bredow-Werndl und Julia Krajewski ("Diese Bilanz passt ganz gut in unsere Zeit"), die einmal mehr nervenstarke Weitspringerin Malaika Mihambo oder auch Aline Rotter-Focken, die zum Abschluss ihrer Karriere als erste deutsche Ringer-Olympiasiegerin Geschichte schrieb, setzten Zeichen - auch für mehr Geschlechtergerechtigkeit. "Es ist vollkommen egal, welche Sportart du betreibst - du kannst es auch als Frau", sagte Rotter-Focken. Wer sollte ihr widersprechen?

Funks emotionales Gold

Die erste und eine der emotionalsten deutschen Goldmedaillen holte Slalom-Kanutin Ricarda Funk. Die Erinnerung an ihren früheren Trainer Stefan Henze, der in Rio an den Folgen eines Autounfalls gestorben war, und die Gedanken an ihre Heimat bewegten die Olympiasiegerin. "Ich schicke ganz viel Liebe nach Hause. Gemeinsam schaffen wir das", lautete ihre Botschaft ins heimische Ahrtal, das wie so viele Orte brutal vom Hochwasser getroffen worden war.

"In diesem ganzen Schutt und Dreck glänzt dieses Gold wie ein paar Sonnenstrahlen." Thorsten Funk zum Olympiasieg seiner Tochter

Zverev und Bahnrad-Vierer setzen Glanzpunkte

Und die deutschen Männer? Sonst Einzelkämpfer, wuchs Alexander Zverev als Teamplayer über sich hinaus, bezwang den übermächtigen Novak Djokovic und holte Gold. Nicht weniger sensationell: das Silber von Geher Jonathan Hilbert.

Florian Wellbrock schwamm sich nach Rückschlägen im Becken in der Bucht von Tokio frei und gewann Freiwasser-Gold: dem Druck standgehalten und zur guten Schwimm-Bilanz beigetragen.

Herausragend auch die Weltrekord-Show beim Bahnrad-Vierer. Franziska Brauße, Lisa Brennauer, Lisa Klein und Mieke Kröger stellten drei Weltbestmarken binnen 25 Stunden auf und gewannen als erstes deutsches Frauen-Team Gold in der Königsdisziplin.

"Zum Kotzen" - Vetter enttäuscht in Tokio

Maximale Enttäuschung hingegen bei Speerwerfer Johannes Vetter, der für Gold angetreten war, den rutschigen Belag im Tokioer Olympiastadion "zum Kotzen" fand und nur Neunter wurde. Auch die Ruderer und Renn-Kanuten waren weit vom Goldrausch früherer Spiele entfernt. Geradezu düster fiel die Bilanz in den klassischen Teamsportarten aus, die erstmals seit Atlanta 1996 keine Medaille beisteuern konnten.

Mosters Äußerungen der Tiefpunkt

Erschütternd waren die rassistischen Äußerungen von Rad-Sportdirektor Patrick Moster während des Einzelzeitfahrens und die zögerlichen Reaktionen der deutschen Verbände. Ein deutscher Tiefpunkt in Tokio, ebenso wie das Fünfkampf-Drama um Annika Schleu, das nur Verlierer produzierte und die wichtige Debatte über das Tierwohl und das Regelwerk der Fünfkämpfer in den Mittelpunkt rückte.

Timanowskaja muss fliehen - Herausforderung Hitze

Eines der beherrschenden Themen in Tokio war die Flucht von Kristina Timanowskaja. Die belarussische Sprinterin suchte nach leiser Kritik an der sportlichen Führung aus Angst vor Repressalien in ihrer Heimat Schutz in Polen.

Ein anderes war die extreme Hitze. "Ich könnte hier sterben", entfuhr es Tennisspieler Daniil Medwedew während eines Matches. Die stechende Sonne im Land der aufgehenden Sonne kannte kaum Gnade mit den Athleten.

Fabel-Rekorde im Olympiastadion

Gleichwohl purzelten im Olympiastadion die Rekorde. Karsten Warholms und Sydney McLaughlins Wahnsinns-Läufe über 400 m Hürden wirkten fast schon unwirklich. Die Jamaikanerin Elaine Thompson-Herah lieferte über 100 und 200 m Fabel-Zeiten ab. Die schnellste Laufbahn der Geschichte, Laufschuhe mit Carbonsohlen oder ein Jahr mehr Vorbereitung als gedacht? Alles Erklärungsansätze. Nigerias Topsprinterin Blessing Okagbare hatte nichts mehr zu erklären, sie wurde wegen eines positiven Dopingtests im Vorfeld der Spiele während der laufenden Wettkämpfe kurzfristig ausgeschlossen.

Olympische Momente: Geteiltes Gold, geteilte Freude

Viele glanzvolle Momente werden von Tokio in Erinnerung bleiben. Wie das geteilte Gold der Hochsprung-Kumpels Gianmarco Tamberi und Mutaz Essa Barshim, Frank Stäblers Bronze im letzten Kampf und seine zurückgelassenen Schuhe auf der Ringer-Matte, aber auch der offene Umgang von Turn-Superstar Simon Biles mit Leistungsdruck und mentalen Problemen.

War es richtig, die Spiele stattfinden zu lassen?

Aber auch die Frage: War es richtig, Olympia stattfinden zu lassen? Eindeutig "Ja" aus Sicht der Sportler, "Jein" aus Sicht der Japaner. Sie werden wie so viele Ausrichter zuvor die Zeche für den Olympia-Gigantismus (Tokio liegt mit offiziell 13 Milliarden Euro weit über dem einst veranschlagten Budget) zahlen müssen.

Gut möglich zudem, dass es die stetig steigenden Corona-Infektionszahlen den Paralympics (24. August bis 5. September) noch einmal schwerer machen werden.

Alfons Hörmann zog trotzdem ein positives Fazit. "Auch unter Pandemie-Aspekten sind internationale Begegnungen verantwortungsbewusst zu organisieren, bringen aber deutliche Einschränkungen für alle mit sich", sagte der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) im ARD-Interview. "Die Erwartungen an die Spiele wurden übererfüllt."

"Das Land des Lächelns hat sich von seiner freundlichsten Seite gezeigt." DOSB-Präsident Alfons Hörmann

Noch mehr Restriktionen in Peking?

Wie werden es die Chinesen machen? In gerade einmal sechs Monaten stehen die Olympischen Winterspiele in Peking an - wieder unter Pandemie-Bedingungen. "Wir haben inoffizielle Informationen erhalten, dass die Restriktionen noch härter sein können als hier", sagte Hörmann. Bei den Winterspielen kommt erschwerend hinzu, dass sich viel mehr in geschlossenen Räumen abspielt als in Tokio.

Paris ist nicht mehr weit weg

Die nächsten Sommerspiele in Paris finden bereits in drei Jahren statt. Wie wird die Welt 2024 aussehen? Niemand weiß es. Sicher ist, dass bei den Olympischen Spielen in Frankreich die Sportarten Karate und Baseball/Softball nicht mehr dabei sein werden, dafür aber Breakdance. Der Verjüngungsprozess der Spiele durch das IOC schreitet voran. Was wohl der Pariser Pierre de Coubertin dazu gesagt hätte ...

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 07.08.2021 | 23:50 Uhr

Stand: 08.08.21 13:14 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge USA USA 39 41 33
2. Flagge Volksrepublik China CHN 38 32 18
3. Flagge Japan JPN 27 14 17
4. Flagge Großbritannien GBR 22 21 22
5. Flagge Russisches Olympisches Komitee ROC 20 28 23
6. Flagge Australien AUS 17 7 22
7. Flagge Niederlande NED 10 12 14
8. Flagge Frankreich FRA 10 12 11
9. Flagge Deutschland GER 10 11 16
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