Weltmeisterin Edina Müller © picture alliance/dpa Foto: Roland Weihrauch

Edina Müller - neue Sportart, zweites Gold?

von Florian Neuhauss, sportschau.de

Im Rollstuhlbasketball hat Edina Müller fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Doch 2014 zog sie einen Schlussstrich. "Ich habe nicht mehr für den Sport gebrannt", erklärt die Wahl-Hamburgerin. Seit gerade einmal zwei Jahren sitzt sie nun im Para-Kanu - und ist schon Welt- und neuerdings auch Europameisterin. Bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro gilt sie als eine der großen deutschen Gold-Hoffnungen.

Wenn die Wellen mit Schaumkronen in die Hohenfelder Bucht brandeten, musste sie sich so manches Mal überwinden. Doch Edina Müller startete unermüdlich bei Wind und Wetter jeden Abend vom Anleger des Kanu Clubs Hamburg durch den dunklen Tunnel unter der Straße Schwanenwik hindurch zur Alster. Längst weiß sie, dass sich die Schinderei gelohnt hat. Im Mai ist die querschnittsgelähmte 32-Jährige in ihrem Kajak über 200 Meter Weltmeisterin in der Startklasse Kl 1 geworden. Mit 0,19 Sekunden Vorsprung gewann sie vor der britischen Abonnementsiegerin Jeanette Chippington. Es war der bisherige Höhepunkt ihrer bemerkenswerten neuen Karriere als Kanutin. Ein weiterer ließ aber nicht lange auf sich warten: Ende Juni holte sie sich auch noch den EM-Titel - mit Weltrekord-Zeit.

Seit dem 17. Lebensjahr querschnittsgelähmt

Mit 16 Jahren spielte die gebürtige Rheinländerin noch begeistert Volleyball. Wegen anhaltender Rückenprobleme musste sie zum Arzt, um eingerenkt zu werden. Doch dabei lief einiges schief, sie sitzt seitdem im Rollstuhl. "Ich habe damals alles dafür getan, um zurück in mein altes Leben zu kommen", erinnert sich die Leistungssportlerin aus Brühl, die erst lernen musste, ihre Behinderung zu akzeptieren. Dem Feuereifer folgte nach drei Jahren der Rückschlag. Eine Druckstelle vom Rollstuhlfahren samt Blutvergiftung und einer Notoperation setzten sie zwei Monate außer Gefecht. "Da hatte ich ein richtiges Tief. Aber heute weiß ich, dass ich das gebraucht habe. Es ist ja etwas verloren gegangen."

Danach habe sie nicht mehr zurück-, sondern nach vorn geschaut: Auf das Abi folgte ein Studium in Rehabilitationspädagogik. Nach dem Vordiplom ging sie in die USA, machte einen Bachelor, um sich medizinische Kenntnisse anzueignen, und spielte für das Collegeteam Rollstuhlbasketball. Als sie zurückkehrte, beendete sie ihr Diplom-Studium - und arbeitet heute im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg.

Die seekranke Medaillensammlerin

Im Rollstuhlbasketball wurde die Athletin deutsche und amerikanische Meisterin, gewann den Europapokal, holte mehrfach den Europameister-Titel, bei Weltmeisterschaften Bronze und Silber sowie bei Paralympics erst Silber und 2012 schließlich Gold. Sogar das Silberne Lorbeerblatt verlieh der damalige Bundespräsident Horst Köhler ihr und ihren Teamkolleginnen. Aber: "Zuletzt hat es einfach nicht mehr gepasst - mit der Mannschaft und mit dem Trainer. Ich muss für meinen Sport brennen, und das war nicht mehr so", erklärt Müller ihr Rollstuhlbasketball-Karriereende.

Der Wechsel zum Wassersport war ein ungewöhnlicher, ihr Verhältnis zum Element ist nämlich eher zwiegespalten: "Ich schwimme gar nicht gern", meint sie lachend, "und auf Schiffen werde ich schnell seekrank." Davon ist allerdings nichts zu spüren, wenn sie in ihrem Kajak die Kontrolle übernimmt. Die ehemalige Hobby-Kanutin wurde bereits deutsche Meisterin, holte EM- und WM-Silber und nun den ersten Weltmeistertitel überhaupt in ihrer Karriere. "Mir macht das alles unglaublich viel Spaß. Wenn ich gerade mal plane, dann ist da auch Tokio noch mit drin." In Japans Hauptstadt finden 2020 die übernächsten Olympischen und Paralympischen Spiele statt.

"Will in Rio eine Medaille holen"

Weltmeisterin Edina Müller © DBS Foto: Kevin Müller

In Duisburg verwies Edina Müller (r.) die Favoritin Jeanette Chippington (l.) erstmals auf Rang zwei.

Müller wechselte aber nicht nur von einer Sportart in die andere. Nachdem sie zuvor in einer Mannschaft gespielt hatte, war sie plötzlich Einzelkämpferin. Noch nicht mal der Deutsche Behindertensportverband hatte sie auf dem Zettel: Anders ist es nicht zu erklären, dass sie nicht Teil des Förderprogramms "Top Team"des DBS ist. Immerhin gehört sie zum "Team Hamburg" - und fühlt sich dort bestens aufgehoben. "Da macht es sich gar nicht so sehr bemerkbar, dass ich jetzt eine Einzelsportart betreibe. Im Olympia-Stützpunkt habe ich viel Kontakt zu den anderen Sportlern." Erst an der Startlinie werde ihr stets bewusst, dass sie ganz für sich allein verantwortlich ist: "Da kann kein Trainer oder sonst wer einen Fehler gemacht haben. Ich fahre mein Rennen und habe am Ende meine Zeit."

Das Kanu-Training ist deutlich intensiver und anstrengender als im Ballsport, ihr normaler "Arbeitstag" dauert mehr als zwölf Stunden: Morgens stehen Kraft- und Stabilisationsübungen oder Physiotherapie im Olympia-Stützpunkt auf dem Programm. Von dort aus fährt sie direkt weiter zur Arbeit - und abends geht es mit dem Kajak auf die Alster. Damit die Beziehung nicht leidet, ist ihr Partner regelmäßig mit dabei.

"Da lässt sich noch mehr rausholen"

Müllers Erfolgsgaranten sind seit Jahren Fleiß, Ehrgeiz und Beharrlichkeit. Ihre ersten Zeiten über die 200 Meter pendelten zwischen 1:16 und 1:13 Minuten. Bei der ersten Sichtung verbesserte sie sich bereits von 1:07 auf 1:02. Das war 2015. Mittlerweile bleibt sie deutlich unter einer Minute, beim WM-Titelgewinn Mitte Mai benötigte die Hamburgerin nur noch 56,846 Sekunden. Von null auf Hundert in die Weltspitze innerhalb von zwei Jahren. Und noch immer ist Luft nach oben. "Niemand weiß, wohin es geht. Wir sind ja lediglich Halb-Profis, allein da lässt sich noch mehr rausholen", erklärt sie: "Schon ein anderes Paddel oder eine neue Sitzschale können ganz anderes Potenzial haben." Auch Chippington ist eine Quereinsteigerin, die 46-Jährige war zuvor erfolgreiche Schwimmerin - und wird bei den Paralympics ihre ärgste Konkurrentin sein.

Atmosphäre hilft beim Ausblenden der Bedingungen

Großes Aufsehen haben zuletzt Meldungen über die schlechte Wasserqualität vor Rios Küste in der Guanabara-Bucht erregt. Von der Kanustrecke, die zum Glück für die Athleten ein Stück landeinwärts liegt, konnte sich Müller im vergangenen Jahr bereits ein Bild machen: "Die Atmosphäre ist schon beeindruckend, Cristo steht direkt über dir. Aber die Strecke, die ist allenfalls okay. Sehr windanfällig - und überall waren Wasserpflanzen und Algen. Wenn man sich da unglücklich verfängt, ist das Rennen vorbei." Beim Testwettkampf wurde Müller Zweite hinter Chippington. Dass die Wasserqualität auch für die Kanuten zweifelhaft ist, versucht sie auszublenden: "Wir können es ja nicht ändern."

Unterkühlt zum WM-Titel über 200 Meter ...

Mit widrigen Bedingungen kennt sich Müller aus. In Duisburg kenterte sie eine Stunde vor dem WM-Rennen, lag zehn Minuten im kalten Wasser, bevor sie jemand ins Boot holte. Der DLRG sei sie erst begegnet, als sie schon fast wieder an Land war, so die 32-Jährige. Sie schaffte es nicht, sich rechtzeitig wieder aufzuwärmen - und gewann dennoch Gold. "Mir ist am Ende wirklich die Kraft ausgegangen", schildert sie sportschau.de. Wozu sie in der Lage ist, wenn es mit der Vorbereitung hinhaut, zeigte sie Ende Juni bei der EM in Moskau: In 54,9 Sekunden fuhr sie der Konkurrenz davon. Nie war eine Athletin vor ihr schneller unterwegs.

... und mit Volldampf zum Paralympics-Gold?

Am 7. September werden die Paralympischen Spiele feierlich eröffnet. Müller reist schon eine Woche vorher an, um sich zu akklimatisieren und um zu trainieren. Seit dem WM-Triumph gilt sie als Gold-Favoritin - und möchte vor ihren Wettkämpfen am 14. und 15. September nichts dem Zufall überlassen. Schließlich träumt die Hamburgerin vom dritten Edelmetall bei ihrer dritten Teilnahme an den Spielen: "Es ist auf jeden Fall ein Ziel, in Rio eine Medaille zu holen.

Dieses Thema im Programm:

Sportschau live, 19.09.2016, 10.00 Uhr

Stand: 25.06.16 14:18 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge Volksrepublik China CHN 107 81 51
2. Flagge Großbritannien GBR 64 39 44
3. Flagge Ukraine UKR 41 37 39
4. Flagge USA USA 40 44 31
5. Flagge Australien AUS 22 30 29
6. Flagge Deutschland GER 18 25 14
7. Flagge Niederlande NED 17 19 26
8. Flagge Brasilien BRA 14 29 29
Stand nach 528 von 528 Entscheidungen.

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