In der Favela Vidigal © NDR Foto: Bettina Lenner

Olympiastadt

Jan Siebert: Leben und malen in der Favela

von Bettina Lenner, sportschau.de

Der deutsche Maler Jan Siebert lebt in einer Favela in Rio de Janeiro. Die ARD hat ihn in seinem Zuhause am Zuckerhut besucht - und alle Klischees über Bord werfen müssen.

"Wir öffnen besser die Fenster. Die Polizei sieht gerne, wer in den Autos sitzt“, sagt unser Fahrer Leonardo. Wir stehen an der einzigen Zufahrt in die Favela Vidigal. Hier unten, praktisch dem gesellschaftlichen Treffpunkt des ehemaligen Armenviertels, tobt das Leben. Kinder spielen, die Erwachsenen schwatzen, dazwischen Polizei. Die Straße führt steil nach oben und ist schmal, doch Leonardo, der uns hierher gefahren hat, bringt uns sicher ans Ziel. Wir sehen: erst einmal nicht viel. Ein riesiger Fels, darauf ein Haus, ein paar grau-triste Außenwände, Stacheldraht. Es ist das Zuhause von Jan Siebert.

Malen im Dunkeln

In der Favela Vidigal © NDR Foto: Bettina Lenner

Jan Sieberts Bilder entstehen in der Nacht.

Der Mann aus dem beschaulichen Trittau in Schleswig-Holstein lebt seit 2003 in Brasilien und seit zehn Jahren in der Favela Vidigal. Die Kunst führte ihn hierher. Er ist Maler, mag das Verruchte, verwinkelte, die düsteren Gassen, den Schmuddel. Auch seine Arbeitszeiten sind unkonventionell: Er malt in der Nacht. Das wäre ihm fast schon einmal zum Verhängnis geworden: Vor vier Jahren schlug in einer anderen Favela eine Kugel neben ihm ein, weil Polizisten seinen Pinsel in der Dunkelheit für eine Waffe hielten. "Zum Glück", sagt er, "haben sie vorbeigeschossen." Geblieben sind die Erinnerung an diese heikle Situation und ein Gemälde. Es zeigt den Ort, an dem die Polizisten auf Siebert feuerten. Er hat es "Schießerei" genannt.

"Hier ist es ruhiger als anderswo"

Siebert führt uns eine steile Treppe hinauf, fünf Hunde toben um uns herum. Oben auf der Terrasse haben sie sich beruhigt - und uns stockt der Atem. Der Blick über den Südatlantik und den Strand von Ipanema ist eine Sensation. Einer der besten, den Rio zu bieten hat - und "immer wieder geil", meint unser Gastgeber. Das Haus des 45-Jährigen, in dem er zur Miete wohnt, ist großzügig, die Idylle perfekt. Eine Nachbarin singt, Geschirr klappert, dafür kaum Verkehrsgeräusche. Es ist entspannt und friedlich - so ganz anders als in unserer von Klischees geprägten Vorstellung. Gefahr, Gewalt und Elend - Siebert muss fast lachen: "Ich habe eher das Gefühl, hier ist es ruhiger ist als woanders."

Längst ein attraktives Wohnviertel

In der Favela Vidigal © NDR Foto: Bettina Lenner

Blick zum Strand von Ipanema.

Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren tobte in der Favela, in der rund 30.000 Menschen leben, ein heftiger Kampf zwischen rivalisierenden Drogenbanden. Doch seit der Staat die Befriedungspolizei UPP installiert hat, kommen Zusammenstöße kaum mehr vor. Es gäbe sie noch, die Drogenbosse, sagt Siebert. Doch die Verhältnisse sind sozusagen geklärt. Und so hat die Kombination aus Sicherheit und Spitzenlage mit der grandiosen Aussicht auf die benachbarten Nobelviertel Ipanema und Leblon das ehemalige Armutsviertel längst zu einer attraktiven Wohngegend gemacht.

Nach wie vor besonderes Flair

Einige Einwohner haben ihre Häuser, die am kleineren der beiden Berge Dois Irmaos, der zwei Brüder, kleben und an vielen Stellen wie aufeinandergestapelt wirken, mit Profit verkauft. Es gibt günstige Hostels, kostspieligere Hotels und Touristen, die das nach wie vor besondere Flair in der Favela spüren und genießen wollen. Über den Dächern der dicht gedrängten Häuser steigen Drachen auf, ein typisches Bild und Volkssport in den Favelas. Man kennt sich, und schon längst wundert sich keiner mehr über den Maler aus Deutschland, der nach Einbruch der Dunkelheit mit seiner Staffelei in die Nacht eintaucht.

Favela ist nicht gleich Favela

Der Frieden hat in Vidigal, beinahe schon so etwas wie eine Luxus-Favela, aus wirtschaftlichen Gründen wohl dauerhaft Einzug gehalten. Wie in vielen anderen Favelas im Süden der Olympiastadt auch. "Man muss die Fenster beim Hereinfahren eigentlich nicht mehr heruntermachen. Das war einmal", meint Siebert. Es fällt uns beinahe schwer, diesen Ort zu verlassen, an dem wir uns so wohl gefühlt haben - wohl wissend, dass die Welt in anderen Armenvierteln vor allem im Norden der Metropole ganz anders aussieht. Favela ist nicht gleich Favela - Rio de Janeiro, die Stadt der großen Gegensätze, wird ihrem Ruf einmal mehr gerecht.

Olympiastadt

Impressionen aus Vidigal

Dieses Thema im Programm:

Sportschau live, 21.08.2016, 07.00 Uhr

Stand: 06.08.16 02:00 Uhr