Boccia

Dank Kampfgeist zu Paralympics: Deutsche Boccia-Premiere mit Nicolai

von Florian Neuhauss

Boris Nicolai ist der erste deutsche Boccia-Spieler, der es jemals zu den Paralympics geschafft hat. Seine Geschichte handelt von schweren Rückschlägen und großem Kampfgeist.

Viermal schwingt der Mann mit der schwarzen Kappe und dem Rollstuhl, an dem die deutschen Farben prangen, mit dem rechten Arm durch. Dann fliegt der blaue Ball durch die Luft und landet nach zwei Metern genau so, dass der rote Ball zur Seite geschossen wird. Wenn er sich über den gelungenen Wurf freut, dann allenfalls innerlich. Boris Nicolai ist hochkonzentriert. Schon sucht er in dem Sack, den er in seinem Schoß liegen hat, nach dem nächsten Ball.

Boccia: Eine Kombination aus Kraft, Präzision und Taktik

Wer platziert seine Kugeln am dichtesten am weißen Zielball?

Jeder Athlet und jede Athletin hat beim Para-Boccia sechs Bälle zur Verfügung, die in einer Runde auf dem 10x6 Meter großen Feld alle geworfen werden müssen. Jeder Ball wiegt rund 275 Gramm. Es gibt Bälle zum Schießen, um gegnerische Bälle aus dem Weg zu räumen, und es gibt welche, um sie selbst geschickt zu "legen". Die Athleten dürfen nach gewissen Vorgaben selbst entscheiden, was für Bälle sie im Match benutzen wollen. Nicolai hat dabei ein festes Repertoire. Ziel ist es, die Bälle möglichst nah an dem weißen Zielball zu platzieren und dadurch Punkte zu sammeln.

"Ich mag die Kombination aus Kraft, Präzision und Taktik", erklärt der 36-Jährige aus der Nähe von Saarbrücken und fügt lachend hinzu: "Ich spiele mein bestes Boccia, wenn ich mich nicht zu viel aufrege."

Erstes Spiel gleich gegen die Favoritin

In der Trainingseinheit einen Tag vor dem ersten Match in der Klasse BC4 am Samstag (28.08.2021/2.30 Uhr) gegen die Weltranglisten-Erste Michaela Balcova im Ariake Gymnastics Centre gelingt ihm das perfekt. Allerdings spielt Nicolai auch nur ein Match gegen sich selbst. Bundestrainer Kristof Heller gibt dazu lediglich knappe Kommentare ab und räumt hier und da einen Ball zur Seite, um andere Spielsituationen zu erzeugen.

Als Teenager Diagnose Muskeldystrophie

Als Jugendlicher hat Nicolai viel Tennis gespielt und ist geschwommen. "Als ich 16 oder 17 Jahre alt war, habe ich dann die Diagnose Muskeldystrophie bekommen", berichtet der heute 36-Jährige. Dabei handelt es sich um einen genetischen Defekt, durch den sich schleichend die Muskeln zurückbilden. Ein Schock - den der Teenager mit seinem großen Kampfgeist, der ihn schon zuvor ausgezeichnet hatte, verarbeitete. "Ich bin immer noch sportlich - aber eben anders. Mir ist es durch mein Training in den letzten Jahren gelungen, im Oberkörper stabil zu bleiben und ich bin optimistisch, dass das auch so bleibt."

"Es ist eine große Ehre, dass ich als erster Boccia-Spieler aus Deutschland bei den Paralympics bin."

Im Jahr 2014 machte Nicolai Urlaub in einem Hotel für Menschen mit Behinderung und probierte dort Para-Boccia aus. Nach seiner Rückkehr nach Hause ins Saarland suchte er sich einen Verein - und schloss sich dem BRS Gersweiler-Ottenhausen an. Schon ein Jahr später war er Zweiter bei den deutschen Meisterschaften.

WM-Dritter 2018, EM-Zweiter 2019

Doch die Sache hatte einen Haken: International merkte der Neuling schnell, dass das Niveau viel höher war. Zusammen mit seinem Trainer Edmund Minas stürzte sich Nicolai ins Training. Vieles war dabei Learning by Doing, weil Boccia in Deutschland ein Schattendasein fristet. Auf Bundesebene fehlten die Strukturen - und so rückte, als Nicolai immer besser wurde, Minas kurzerhand 2018 auch noch zum Bundestrainer auf. Seinen großen Durchbruch hatte Nicolai bei der WM im selben Jahr mit der Bronzemedaille. Ein Jahr später folgte Silber bei der EM. Durch seine Erfolge schaffte er, was vor dem Weltranglisten-Zweiten noch niemandem in Deutschland gelungen war: die Qualifikation für die Paralympics. Was umso bemerkenswerter ist, weil Boccia schon seit 1984 paralympisch ist.

Drama um Trainer Minas - Heller springt ein

Doch die Freude hielt nicht lange an. Der herzkranke Minas, längst viel mehr als nur ein Trainer für Nicolai, starb im Dezember 2019 an seiner Krankheit. Eine Operation kam zu spät. "Die Qualifikation für die Paralympics war unser gemeinsamer Traum", sagt der Athlet, der in Tokio auch für seinen Coach spielen will. "Er wird in Gedanken bei mir sein."

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Ein paar Monate später brachte die Corona-Pandemie die Vorbereitung auf die Spiele zunächst allerdings vollkommen zum Erliegen. Nicolai, der als Maschinenbautechniker arbeitet, versuchte, sich allein fit zu halten. Ihm blieb nichts anderes übrig - zumal es zunächst weder auf Vereins- noch auf Verbandsebene überhaupt einen Coach für ihn gab. In Saarbrücken sprangen dann zwei Mitglieder aus dem Vereinsvorstand ein. Heller kannte Nicolai bereits aus der Reha, und der gelernte Physiotherapeut, den Minas zuvor schon an die Trainerarbeit herangeführt hatte, wurde Nachfolger des Verstorbenen beim Verband. Weil es wegen der Pandemielage in den letzten eineinhalb Jahren gar kein Turnier mehr gab, feiert Heller nun nicht nur ebenfalls seine Paralympics-Premiere, sondern sein Debüt als Nicolai-Coach gleich mit.

"Wurde einfach mal Zeit, dass es jemand schafft"

Auf dem Feld ruht Nicolai in sich. Auch bei Bällen, die nicht wie gewünscht landen, zuckt beim Training am Freitag allenfalls der Mundwinkel. "Para-Boccia ist ein bisschen wie Tennis. Jede Situation ist anders, es kommt vor allem darauf an, die Nerven zu behalten und sein Spiel durchzubringen." Als Neuling verspüre er dabei allerdings keinen Druck: "Es ist natürlich eine große Ehre, dass ich als erster Boccia-Spieler aus Deutschland bei den Paralympics bin. Aber es wurde auch einfach mal Zeit, dass es jemand schafft."