Die deutsche Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller (M.) © imago images/Beautiful Sports Foto: Mueller-Laschet

Rollstuhlbasketball

Rollstuhlbasketball: Debatte um Klassifizierung, Paralympics-Zukunft offen

von Florian Neuhauss

Der Rollstuhlbasketball muss sich verändern - das IPC will es so. Der sehr inklusive Ansatz ist bald Geschichte - neue Klassifizierungsregeln bereiten nicht zuletzt den Athletinnen und Athleten große Sorgen. Und noch immer ist nicht geklärt, ob die Sportart bei den Paralympics in Paris 2024 dabei sein wird.

Rollstuhl-Basketball hatte bei den Paralympics schon immer eine besondere Position, oder um es mit den Worten von Männer-Bundestrainer Nicolai Zeltinger zu sagen: "Eine sehr fortschrittliche Rolle". Anders als in vielen anderen Sportarten gibt es keine unterschiedlichen Klassen, sondern nur eine, in der sich nach einem ausgeklügelten Punktesystem zusammengestellte Mannschaften gegenüberstehen.

Die Skala reicht von einem Punkt für sehr schwer Behinderte bis zu 4,5 Punkten für Minimalbehinderte und auch Menschen ohne Handicap. Die Gesamtzahl der Punkte in der fünfköpfigen Mannschaft darf 14 Punkte im Bereich der Nationalteams und 14,5 bei den Clubwettbewerben nicht überschreiten.

Doch seit IPC-Präsident Sir Philip Craven, der früher selbst Rollstuhl-Basketballer war, sein Amt an Andrew Parsons abgegeben hat, weht ein anderer Wind. Und zwar den inklusiv denkenden Rollstuhl-Basketballern genau ins Gesicht.

Großer Streit um Minimalbehinderungen

Im Streit zwischen dem IPC und dem Rollstuhl-Basketball-Weltverband IWBF geht es um die Definition der Minimalbehinderung. Das Komitee forderte de facto den Ausschluss einiger Athleten, deren Behinderung es nicht als schwer genug einstuft. Dazu muss man wissen, dass im normalen Ligabetrieb - zum Beispiel in Deutschland - sogar Nicht-Behinderte mitspielen. Auf internationaler Ebene, also in IWBF-Spielen, sind die "Fußgänger" ausgeschlossen. Bei den Paralympics sollten die Regeln noch einmal verschärft werden.

Als der Weltverband sich zierte, die Regeln anzupassen, drohte das IPC im vergangenen Frühjahr offen mit dem Ausschluss von den Sommerspielen in Tokio. Für Paris wurde vorerst eine Suspendierung ausgesprochen.

"Die Verschiebung hat die Wogen geglättet"

"Die Verschiebung der Spiele hat dann etwas Zeit verschafft und die Wogen geglättet", erklärt DBS-Sportdirektor Frank-Thomas Hartleb. Das IPC setzte dem Weltverband eine Frist bis Ende August, das Regelwerk umzusetzen. Die IWBF beauftragte daraufhin die Universität in Loughborough, mit der auch das Komitee zusammenarbeitet, damit, die Kriterien für die Minimalbehinderungen auszuarbeiten. Und auch wenn die Studie noch nicht abgeschlossen worden ist, hat die IWBF nach Sportschau-Informationen bereits ein 160-seitiges Papier eingereicht. Die Antwort des IPC steht zwar noch aus, der Verband ist nach Gesprächen mit Vertretern des Komitees jedoch optimistisch.

Aus der Theorie ist bereits im Vorfeld der Paralympics Praxis und die neue Linie deutlich geworden: "Nach den uns vorliegenden Informationen wurden weltweit 1179 Athletinnen und Athleten überprüft, davon 966 als klassifizierbar eingestuft, 15 nicht-klassifizierbar und in 198 Fällen steht die Entscheidung noch aus", berichtet Hartleb.

Hin und Her um Barbara Groß "sehr schockierend"

Von den Paralympics ausgeschlossen wurde zunächst unter anderem Barbara Groß, für die eine Welt zusammenbrach. Die 27-Jährige hat mit den deutschen Rollstuhl-Basketballerinnen bei EM, WM und Olympia Medaillen gewonnen. Und auf einmal sollte sie ihren Sport beim wichtigsten Event nicht ausüben dürfen? Der Deutsche Behindertensportverband reichte Unterlagen und weitere Erläuterungen ein, um die Behinderung nachzuweisen. Und nach einigen Monaten kam die gute Nachricht, dass Groß doch in Japan dabei sein darf.

Die deutsche Rollstuhlbasketballerin Barbara Groß © imago images/Beautiful Sports Foto: Mueller-Laschet

Das alles fand ihre Mitspielerin Mareike Miller, die zugleich Kapitänin des Teams und Athletensprecherin ist, "sehr schockierend". Sie selbst musste mit ihrer Knieverletzung, die mit 4,5 Punkten in die Mannschaftswertung eingeht, ebenfalls bangen - bekam aber schon im ersten Anlauf einen positiven Bescheid. Trotzdem sagt sie: "Für mich als Athletin war das einfach schwer zu durchschauen. Es war nicht klar, worauf genau geguckt worden ist. Da wäre Transparenz sehr sinnvoll."

Doch es könnte noch mal alles von vorn beginnen. Ob sich alle erneut der Klassifizierung unterziehen müssen, wenn die Studie abgeschlossen ist, vermag noch niemand zu sagen.

Mareike Miller kritisiert Regeln scharf

Die deutsche Fahnenträgerin Miller hatte sich in ihrer Zeit als Basketballerin immer wieder Verletzungen zugezogen. Stets kämpfte sie sich zurück – bis das Knie endgültig kaputt war. "Jetzt habe ich eine Minimalbehinderung und darf bei den Paralympics mitmachen. Aber es kann ja nicht der Sinn des Ganzen sein, dass jemand, dessen Knie nicht ganz so kaputt ist, seinen Körper noch ein bisschen mehr schinden muss, bevor es ein Startrecht gibt. Wir hätten alle gern gesündere Körper", betont Miller. Genauso wie sie begrüßt auch Bundestrainer Zeltinger grundsätzlich das Erarbeiten genauer Regeln. Aber wo wird die Grenze gezogen?

Ausgeschlossen: George Bates erwägt Amputation

Für Aufsehen sorgte im vergangenen Jahr George Bates. Auch dem britischen Rollstuhl-Basketballer, der seit seiner Jugend an einem chronischen Schmerzsyndrom im Bein leidet, wurde die Spielgenehmigung entzogen. Er sei "auf die falsche Art behindert" und erwäge eine Beinamputation, schrieb er bei Twitter. "Jeder fragt sich bei Schmerzen, was es für Optionen gibt, sie los zu werden", sagt Miller und fügt hinzu: "So ein Satz ist natürlich eine schwierige Drohung - zumal niemand eine Amputation auf die leichte Schulter nehmen sollte. Aber der Tweet zeigt in allen Extremen, worüber wir hier sprechen. Ihm wurde der Boden unter den Füßen weggerissen." Anders als bei Groß hat die Sperre von Bates nach wie vor Bestand.

 

Zeltinger ist von den Vorgängen geschockt: "Wir haben Spieler verloren, die schon immer dabei waren. Diese gehören zu unserem Sport und sind ein Teil von uns. Aber jetzt wird die Inklusion zurückgeschrumpft." Der Coach hat früher als "Fußgänger" selbst für den RSV Lahn Dill erfolgreich Rollstuhl-Basketball gespielt und freut sich, dass im Rahmen der Studie endlich auch mit den Athletinnen und Athleten gesprochen worden ist.

Wie es mit dem Rollstuhl-Basketball nach den Paralympics weitergeht, ist allerdings noch nicht abzusehen: "Der Streit ist höchstdramatisch und der Ausgang offen. Das IPC tagt während der Spiele", weiß Zeltinger. Eine öffentliche Stellungnahme erwartet Sportdirektor Hartleb allerdings erst frühstens Mitte September.

Rollstuhl-Basketball-Spiele starten am Mittwoch

Doch zunächst gilt die volle Konzentration den Spielen in Tokio. Die deutschen Rollstuhl-Basketballer haben eine richtige Hammergruppe erwischt: Mit Großbritannien, den USA, Australien und dem Iran sind in Gruppe B die vier besten Teams der WM 2018 dabei. In Hamburg belegte die DBS-Auswahl, die zum Auftakt am Donnerstag (26.08.2021/2 Uhr) auf die USA treffen, einen enttäuschenden 13. Platz. Und in Japan überstehen nur jeweils vier Mannschaften die Gruppenphase.

Bei jenem Turnier an der Elbe sicherten sich die deutschen Frauen die Bronzemedaille - und streben auch in Tokio wieder einen der ersten drei Plätze an. Los geht es am Donnerstag (26.08.2021/2 Uhr) mit dem Spiel gegen Australien. Größte Konkurrenten im Kampf um den Gruppensieg dürften Vizeweltmeister Großbritannien und die Kanadierinnen sein.

Ergebnisse

Rollstuhlbasketball, Frauen, Endstand

Gold Flagge Niederlande NED Anouk Taggenbrock / Ilse Arts / Sylvana Van Hees / Lindsay Frelink / Jitske Visser / Julia Van Der Sprong / Bo Kramer / Xena Wimmenhoeve / Cher Korver / Saskia Pronk / Carina De Rooij / Mariska Beijer
Silber Flagge Volksrepublik China CHN Xuejing Chen / Xuemei Zhang / Tonglei Zhang / Guidi Lyu / Suiling Lin / Xiaolian Huang / Jiameng Dai / Tianjiao Lei / Wenli Chen / Yan Yang / Mingzhu Deng / Meier Chen
Bronze Flagge USA USA Alejandra Ibanez / Abigail Bauleke / Zoe Voris / Darlene Hunter / Josie Aslakson / Natalie Schneider / Rose Hollermann / Kaitlyn Eaton / Lindsey Zurbrugg / Bailey Moody / Ixhelt Gonzalez / Courtney Ryan
4. Flagge Deutschland GER Lisa Bergenthal / Annabel Breuer / Laura Fürst / Barbara Groß / Lena Knippelmeyer / Katharina Lang / Maya Lindholm / Svenja Mayer / Mareike Miller / Anne Patzwald / Catharina Jule Weiss / Johanna Welin-Ryklin
5. Flagge Kanada CAN Rosalie Lalonde / Elodie Tessier / Arinn Young / Cindy Ouellet / Tamara Steeves / Danielle Duplessis / Puisand Lai / Tara Llanes / Sandrine Berube / Kathleen Dandeneau / Melanie Hawtin

Rollstuhlbasketball, Männer, Endstand

Gold Flagge USA USA Jorge Sanchez / Jacob Williams / Joshua Turek / Michael Paye / Matt Lesperance / Ryan Neiswender / Brian Bell / Matt Scott / Steve Serio / Nate Hinze / Trevon Jenifer / John Boie
Silber Flagge Japan JPN Akira Toyoshima / Renshi Chokai / Rin Kawahara / Takuya Furusawa / Ryuga Akaishi / Tetsuya Miyajima / Kiyoshi Fujisawa / Reo Fujimoto / Yoshinobu Takamatsu / Kei Akita / Takayoshi Iwai / Hiroaki Kozai
Bronze Flagge Großbritannien GBR Gaz Choudhry / Terry Bywater / Harrison Brown / Abdi Jama / Gregg Warburton / Ian Sagar / Lee Manning / Ben Fox / James Palmer / James Macsorley / Billy Bridge / Lewis Edwards
4. Flagge Spanien ESP Daniel Stix Soto / Pablo Jesus Zarzuela Beltran / Francisco Javier Sanchez Lara / Alejandro Zarzuela Beltran / Amadou Tijane Diallo Diouf / Jordi Ruiz Jordan / Asier Garcia Pereiro / David Mouriz Dopico / Oscar Onrubia Gonzalez / Ignacio Ortega Lafuente / Manuel Lorenzo Diaz / Agustin Alejos Alonso
5. Flagge Australien AUS Samuel White / Jeremy Tyndall / Bill Latham / Brett Stibners / Shaun Norris / Kim Robins / Tristan Knowles / Jannik Blair / Tom O'Neill-Thorne / Matthew Mcshane / Michael Auprince / John Mcphail
7. Flagge Deutschland GER Jens-Eike Albrecht / Joe Bestwick / Andrè Bienek / Thomas Böhme / Nico Dreimüller / Jan Haller / Aliaksandr Halouski / Christopher Huber / Phillip Schorp / Jan Sadler / Tobias Hell / Matthias Güntner

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Paralympics 2020 | 24.08.2021 | 09:05 Uhr

Stand: 23.08.21 13:13 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge Volksrepublik China CHN 96 60 51
2. Flagge Großbritannien GBR 41 38 45
3. Flagge USA USA 37 36 31
4. Flagge Russisches Paralympisches Komitee RPC 36 33 49
5. Flagge Niederlande NED 25 17 17
6. Flagge Ukraine UKR 24 47 27
7. Flagge Brasilien BRA 22 20 30
8. Flagge Australien AUS 21 29 30
...
12. Flagge Deutschland GER 13 12 18
Stand nach 539 von 539 Entscheidungen.

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