Olympia-Geschichte
Das Doppelleben der Dora Ratjen
von Bettina Lenner, NDR.de
Ratjens Polizeifoto: Am 21. September 1938 wird Dora Ratjen auf dem Rückweg nach Köln festgenommen.
Kurz nach dem Höhepunkt ihrer Karriere endete Dora Ratjens Leben als Frau. Bei den Europameisterschaften in Wien im September 1938 hatte die Hochspringerin bei ihrem Titelgewinn den Sensations-Weltrekord von 1,70 m aufgestellt. Auf dem Rückweg nach Köln fiel sie auf, jemand meldete: Im Zug sitze eine Dame, die in Wahrheit ein Mann sei, ein Spitzel. Bei einem Zwischenstopp auf dem Bahnhof in Magdeburg wurde Ratjen aufgefordert, den Beamten auf die Wache zu folgen. Ob sie Mann oder Weib sei? Die 19-Jährige zögerte kurz, erklärte dann aber, sie sei ein Mann. Es war das Ende einer ebenso skurrilen wie einzigartigen Karriere und einer der größten Sportskandale der deutschen Geschichte: Die weltbeste Hochspringerin und eine der populärsten deutschen Sportlerinnen - ein Mann in Frauenkleidern.
"Da stimmt was nicht"
Rund 20 Jahre vor der Festnahme, am 20. November 1918, wurde in Erichshof bei Bremen ein Kind geboren. Ein Junge. Oder doch ein Mädchen? Es gab Zweifel. "Da stimmt was nicht", konstatierte die Hebamme. Eine bei der späteren polizeiärztlichen Untersuchung festgestellte anatomische Abweichung, ein "derber Narbenstrang, der sich von der Unterseite des Penis ziemlich breitflächig nach hinten erstreckt", könnte die Verwirrung erklären. Schließlich legte sich die Hebamme fest - ein Mädchen. Ihrem Urteil folgten die Eltern, die schon drei Töchter hatten. Das Schicksal nahm seinen Lauf: Dora wurde als Mädchen erzogen, trug Mädchenkleidung, besuchte eine Mädchenschule und ergriff nach dem Abschluss einen Frauenberuf als Packerin in einer Tabakfabrik.
Kandidatin für die Olympischen Spiele 1936
Ratjen als biologischer Junge muss den Widerspruch spätestens in der Pubertät zunehmend gespürt haben: Bartwuchs und Stimmbruch setzten ein, es kam zu ersten Samenergüssen. Die Umgebung behandelte den Knaben dennoch weiter als Mädchen. Dora Ratjen entdeckte ihre Liebe zum Sport, 1934 trat sie dem Sportverein Komet Bremen bei. Im selben Jahr wurde die knabenhafte Hochspringerin niedersächsische "Gaumeisterin", avancierte zur Kandidatin für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. 1934 war auch das Jahr, in dem die Nationalsozialisten erkannten, was für Chancen die Spiele ihnen boten, sie zu Propagandazwecken zu nutzen und die vermeintliche deutsche Überlegenheit über die Nationenwertung zu demonstrieren.
- Teil 1: Ein Mann in Frauenkleidern
- Teil 2: Olympia-Intrige gegen Bergmann
- Teil 3: Aus Dora wird Heinz
Stand: 11.07.12 20:20 Uhr