Badminton
Ein Traum wird wahr: Aus der Favela zu Olympia
von Bettina Lenner, sportschau.de
Vor rund 20 Jahren gründete Sebastiao Coelho in Rio de Janeiro das Badminton-Center Miratus. Seine Vision: ein besseres Leben für ein ganzes Stadtviertel. Sein Sohn Ygor gab nun sogar sein Debüt bei Olympia - und ist der Held der Kids in der Favela.
Als Ygor Coelho de Oliveira den Court betritt, wird er empfangen wie ein Popstar. "Wir wollen Ygor sehen" und "Ygor, Ygor, Ygor", schallt es durch die Halle Riocentro 4. Verantwortlich für das ohrenbetäubende Spektakel, das schnell auf die restlichen Zuschauer in der fast vollbesetzten Arena überschwappt, sind die gut 200 Kinder vom Badminton-Center Miratus. Nicht irgendein Trainingszentrum in der Olympiastadt Rio de Janeiro. Sondern ein Sozialprojekt, das den Kindern in der für Gewalt, Verbrechen und Armut bekannten Favela Chacrinha Hoffnung macht und Perspektiven verschafft.
"Hier nehmen Drogendealer die Kinder an die Hand und trainieren sie. Da sind sie gerade einmal sieben oder acht Jahre alt", erzählt Sebastiao Coelho de Oliveira. Der ehemalige Müllsammler hat Miratus vor fast 20 Jahren gegründet und selbst gebaut, um den Kids eine Alternative zum gefährlichen Leben auf der Straße zu bieten. "Pai", "Vater" nennen die Jüngsten den 51-Jährigen, dessen Warmherzigkeit auf Anhieb spürbar ist: Zur Begrüßung gibt es auch für Fremde eine innige Umarmung.
"Wenn er das kann, kann ich das auch"
Es ist ein großer Tag für Sebastiao Coelho, sein Lebenswerk Miratus und die Kinder. Sein Sohn Ygor Coelho de Olivera ist der erste Brasilianer, der für sein Land im Badminton bei Olympischen Spielen startet. "Ich habe immer davon geträumt, dass jemand, der in der Favela aufgewachsen ist und in der Favela trainiert, die Kinder aus der Favela begeistert", sagt Coelho. Für die Kinder von Miratus ist Ygor Coelho ein Held. "Wenn sie Michael Phelps sehen, denken sie, das schaffe ich nie. Aber bei Ygor denken sie: Wenn er das kann, dann kann ich das auch", sagt Gwen Maitre, seit zehn Jahren Helferin im Trainingszentrum, das sich durch Sponsoring und Spenden finanziert.
Der perfekte Botschafter
Held und Hoffnungsträger: Ygor Coelho.
Ygor Coelho legt im Match gegen den favorisierten Iren Scott Evans furios los. "Wir sind Brasilianer", schmettern die Miratus-Kids, als ihr Idol seine ersten olympischen Punkte verbucht. Und als der erste Satz verloren geht: "I can, I want, I will succeed." "Ich kann, ich will, ich werde erfolgreich sein" - das Motto von Miratus. "Die Kinder wissen nicht, zu was sie fähig sind", erklärt Maitre. Ygor sei der perfekte Botschafter: "Er hat im vergangenen Jahr 20 Länder allein bereist. Er ist ihr Vorbild, aber er kann damit sehr gut umgehen. Er vergisst nicht, wo er herkommt." Seinem Vater, den er als Helden bezeichnet, will der Olympia-Debütant etwas zurückgeben: "Er hat alles für das Sozialprojekt gegeben. Er hat ein gutes Herz."
Die Dinge richtig einordnen, auf dem Teppich bleiben. Wichtige Charaktereigenschaften - und eine riesige Herausforderung. "Die Kinder aus der Favela leben sehr einfach. Sie wohnen mit vielen Menschen auf engstem Raum, manche haben noch nicht einmal ein Bett. Dann reisen sie plötzlich, fliegen zum ersten Mal, sind in Hotels, sie kennen keine Fahrstühle - das ist eine komplett neue Welt", erläutert Maitre.
Soziales Engagement wichtiger als Siege
Soziales Engagement, Hilfsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein - Werte, die für Sebastiao Coelho mehr zählen als sportliche Siege. Die Älteren helfen den Jüngeren und trainieren sie. Wer das Wesentliche aus den Augen verliert, bekommt vom "Pai" die Gelbe Karte - egal, wie talentiert er ist. Die Erfolge sprechen dennoch für sich. Fast 60 lateinamerikanische Turniere haben Schützlinge von Coelho gewonnen, der sich einst Badminton per YouTube-Videos selbst beigebracht hat. Den Sprung zu den Sommerspielen schaffte neben seinem Sohn auch die 20-jährige Lohaynny Vicente.
Samba das Geheimnis des Erfolgs
Erlebnis Olympia: Sebastiao Coelho (unten) mit Kindern im Olympic Park.
Es klingt wie ein Klischee, doch das Geheimnis des Erfolgs ist Samba, fest im Training verankert. Coelho hat erkannt, wie wichtig die Beinarbeit im Badminton ist. Geschmeidig sollen sich seine Spieler bewegen, seinem Filius gelingt das im zweiten Durchgang besser. Als Ygor Coelho den zweiten Satz gewinnt, steht die Halle Kopf. Die La Ola schwappt durch die Ränge - bislang eine Rarität bei diesen Olympischen Spielen. "Ich bin glücklich und aufgeregt. Er soll gewinnen", sagt Jonathan Matias in seinem ersten kleinen Interview auf Englisch: "Vor so vielen Menschen spielen und beim größten Turnier der Welt dabei sein, das möchte ich auch." Der 16-Jährige ist ebenfalls ein Riesentalent, gewann in diesem Jahr bei den Panamerikanischen Spielen zweimal Bronze. Sein Ziel: Tokio 2020.
Gefeiert wie ein Olympiasieger
Am Ende verliert Ygor Coelho, der ebenso wie sein Vater die olympische Fackel durch Rio trug, sein Olympia-Debüt in drei Sätzen. Und auch gegen den deutschen Rekordmeister Marc Zwiebler im zweiten Gruppenspiel gibt es eine Zwei-Satz-Niederlage. Auf seiner Abschiedsrunde durch die Halle wird er dennoch gefeiert, als wäre er Olympiasieger geworden. Denn sein größtes Ziel hat der 19-Jährige, der auch in vier Jahren wieder dabei sein will, in Rio schon erreicht: "Ich komme aus einer Favela und habe es hierher geschafft. Darauf bin ich stolz. Man muss an seine Träume glauben. Sie können wahr werden."
Stand: 15.08.16 09:22 Uhr