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Tattoo und Olympia oder: der Spagat zwischen Normalität und Rebellion
von Dirk Hofmeister
Japanische Tattoo-Ablehnung und hunderte Sportler mit Tätowierungen. Wie geht das? Eine Spurensuche zwischen westlicher Moderne und japanischer Geschichte.
Japan und die Olympischen Spiele - geht das gut? Geht das zusammen? Diese Frage stellte sich in den vergangenen gut zwei Wochen vor dem Hintergrund ausgeschlossener Zuschauer, steigender Corona-Infektionen und einer allgemeinen Olympia-Ablehnung der Bevölkerung häufig. Und diese Frage stellt sich auch bei einem in den vergangenen Jahren immer sichtbarer werdenden Detail olympischer Spiele - den Tattoos der Olympia-Sportler.
Denn so beliebt Tätowierungen in der westlichen Welt sind und so anhaltend der Tattoo-Boom hier ist, so kontrovers wird diese Körperkunst im Gastgeberland betrachtet. Und das schon seit Jahrhunderten - sogar Jahrtausenden.
Traber und sein Drachen-Tattoo
Fraglich also, ob es so klug ist, wenn sich nicht-japanische Sportler mit ihren Tätowierungen ganz auf japanische Kultur beziehen. So, wie der brasilianische Judoka Daniel Cargnin, der sich japanische Schriftzeichen für "Familie" auf die Brust tätowieren ließ. Oder der deutsche Hürdenläufer Gregor Traber, der das Drachen-Tattoo auf seinem linken Arm mit seinem Interesse an japanischer Kultur begründet: "Das Tattoo ist ein Symbol für Kraft und Stärke. Aber ich sehe es auch als Körperkunst, ich fühle mich dadurch der fernöstlichen Tradition verbunden."
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Ringe, Tiere, Schicksale - die schönsten Olympia-Tattoos aus Tokio
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Der Klassiker bei den Olympia-Tattoos: Die olympischen Ringe, hier zu sehen bei der italienischen Turnerin Vanessa Ferrari. Die 30-Jährige durfte dreimal zu den Spielen - und das hat sie auf ihrem Körper verewigt.
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Stolz, dabei zu sein, sind auch der deutsche Surfer Leon Glatzer ...
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... und die türkische Bogenschützin Yasemin Ecem Anagoz.
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Doch die Tätowierungen gehen auch noch größer - und hinter den Tätowierungen stecken oft viel tiefgründigere Geschichten.
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Sehr beliebt: Die Betonung der familiären Bindung, wie hier beim russischer Beachvolleyballspieler Konstantin Semyonov, der die Namen seiner Frau (Marina) und der beiden Töchter (Miroslava und Evangelina) auf dem Körper trägt.
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Die moldauische Diskuswerferin und Kugelstoßerin Alexandra Emilianov trägt neun Tattoos - ihr Lieblingstattoo zeigt das Porträt ihrer Mutter (am linken Arm). Ihre Mutter trägt ebenfalls ein Tattoo - mit dem Bildnis ihrer Tochter.
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Auch der deutsche Hochspringer Mateusz Przybylko würdigt seiner Familie einen Teil seines Körpers - auf dem linken Arm steht "Mi Familia".
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Manche Familien-Tattoos haben eine traurige Geschichte: Das Tattoo auf dem Unterarm des französischen Tischtennis-Spielers Alexandre Cassin erinnert ihn an seine Mutter, die starb, als er neun Jahre alt war. Bei jedem Sieg küsst er das Tattoo, das unter anderem eine Rose und die Geburtsdaten seiner Mutter zeigt.
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Traurig auch die Geschichte hinter Florian Wellbrocks Inschrift. "Genieß Dein Leben ständig, Du bist länger tot als lebendig" erinnert den Magdeburger an den Tod seiner Schwester, die 2006 im Alter von nur 13 Jahren starb.
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Doch es geht auch deutlich leichter: Das Brusttattoo von Schwimmer Bruno Fratus zeigt eine große Welle und symbolisiert das Element, in dem sich der Brasilianer am wohlsten fühlt - Wasser.
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Als "tattoosüchtig" bezeichnet sich die französische Schwimmerin Fantine Lesaffre. "Jeder sagt, dass Du süchtig wirst, wenn Du einmal anfängst. So war es bei mir. Ich habe Tattoo-Ideen für den gesamten Körper und weiß nicht, wann das enden wird", sagte sie. Die Walküre auf dem linken Oberschenkel repräsentiert laut Lesaffre "Weiblichkeit und Frauen-Power."
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Tattoosucht als medizinische Diagnose gibt es nicht. Aber auch BMX-Fahrer Logan Martin ist am ganzen Körper tätowiert - inklusive eines großen Rückentattoos.
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Die Liebe für Tätowierungen ist Martin dabei schon in die Wiege gelegt worden. Sein Großvater war ein berühmter australischer Tätowierer, tätowiert wurde er unter anderem auch von seinem Onkel.
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Komplett tätowiert auch der US-Skateboarder Nyjah Huston - "Ich habe vielleicht 200 Tattoos", berichtet der 26-jährige X-Games-Sieger von 2018 stolz.
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Unter den Tattoos sind sein Lebensmotto "Skate and destroy", Totenköpfe, einen Marder auf einem Skateboard, Waffeln und auch ein großes Mandala am vorderen Hals - ein sehr schmerzhaftes Tattoo.
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Im deutschen Olympia-Team ist unter anderem Speerwerfer Johannes Vetter tätowiert: Sein Rücken ziert ein antiker Speerwerfer (li.), aber auch olympische Ringe (nicht zu sehen) und ein Adler (re.).
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Hürdenläufer Gregor Traber mit einem Drachen auf dem Arm. "Dieser Drache ist ein Symbol für Kraft und Stärke. Aber ich mag die japanische Kultur auch", sagt der Leichtathlet.
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Läuferin Tatjana Pinto trägt mehrere Tattoos. Neben den olympischen Ringen trägt sie auch einen Flügel: "Weil sich der perfekte Sprint wie Fliegen anfühlt", sagte sie.
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Die Kraft des Löwen soll auf Schwimmer Adam Peaty übergehen - über 100 Meter im Brustschwimmen gelang das, er gewann Gold.
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Mit magischen Tieren arbeitet auch Caeleb Dressel: Einen Adler auf der Schulter und einen Bären auf dem Oberarm bezeichnet Dressel als "meine Seelentiere".
Tradition der Zugehörigkeit und Ächtung
Die Tradition der japanischen Tätowierkunst ist rund 10.000 Jahre alt - und in ihrer Geschichte geht es wie in allen Kulturen und über alle Zeit mal um Inklusion und mal um Exklusion. Mal um das Sichtbarmachen von Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, mal zur Stigmatisierung sozialer Schichten oder Ächtung von der Gesellschaft Ausgestoßener. So wurde eines der weltweit ältesten bekannten Tattoos an einer mumifizierten Leiche gefunden, die vor rund 3.500 Jahren gelebt und der nordjapanischen Urbevölkerung angehört hat. Andererseits wurden in den vergangenen 1.000 Jahren in Japan Kriminelle durch Tätowierungen gebrandmarkt.
Bei der "japanischen Mafia", der Yakuza, wurde aus der Stigmatisierung eine Selbst-Ermächtigung. Großflächige Rücken- und Ganzkörper-Tattoos zeigten die Mafia-Zugehörigkeit und den sozialen Status an. Die Yakuza setzte sich damit auch über geltende Gesetze hinweg, bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren Tattoos verboten. Das sind sie längst nicht mehr - aber in einigen Gesellschaftsschichten noch immer geächtet. So sind noch heute am Strand, in traditionellen japanischen Badehäusern oder in japanischen Restaurants Schilder mit der klaren Botschaft zu sehen: "Kein Zutritt für Tätowierte".
Durch Olympia neue Sichtbarkeit der Tattoos
Doch mit den Olympischen Spielen waren in den vergangenen 16 Tagen Tätowierungen auch in Tokio und Sapporo allgegenwärtig. Ob im Schwimmstadion, beim Boxen, Fußball, Diskuswerfen, Bogenschießen, Ringen oder Volleyball - überall war die mit Tinte in den Körper geschriebene Kunst sichtbar. Der auf japanische Kultur spezialisierte Gaming-Blog "Kotaku" prophezeite schon nach der Vergabe der Sommerspiele 2016: "Die Spiele 2020 könnten Japans Sicht auf Tätowierungen für immer verändern."
Von Individualität, Selbstverschönerung und biografischen Marken
Forscher gehen nach Daten repräsentativer Umfragen mittlerweile davon aus, dass in den westlichen Ländern rund ein Drittel der jungen Erwachsenen unter 30 Jahren tätowiert ist. Als Gründe werden von Tätowierten zumeist Selbstverschönerung, ein modisches Statement, Tattoo als Ausdruck der eigenen Individualität, das Markieren von wichtigen Lebensereignissen oder das Anzeigen von Gruppen-Zugehörigkeit genannt.
Der Klassiker: die Ringe
Und schaute man sich in den olympischen Wettkampfstätten um, fanden sich für alle diese Motivationen teilweise großflächige und farbenprächtige Belege. Ein Klassiker der olympia-assoziierten Tattoos dürften dabei die olympischen Ringe sein: Bogenschütze Daniel Felipe Pineda (Kolumbien) trägt sie, Hockeyspieler Juan Manuel Vivaldi (Argentinien), Karate-Kämpferin Alexandra Vanessa Grande Risco (Peru), Fünfkämpfer Jinhwa Jung (Südkorea), Wasserballspieler Rhys Howden (Australien) oder Beach-Volleyballer Alison Cerutti (Brasilien) - um mal sechs von vielen Dutzend Beispielen zu nennen. Die Botschaft ist klar: Ich war dabei, ich habe es geschafft. Ich bin Teil einer durchaus elitären Gruppe der Sportler bei Olympia. Vivaldi und Cerutti verbinden mit den Ringen zusätzlich bereits gewonnene Olympiamedaillen.
Koordinaten des Maracana-Stadions

Caroline Seger mit dem Maracana-Tattoo auf dem linken Armgelenk.
Überhaupt sind große sportliche Momente gern genommene Anlässe für Tätowierungen. Die schwedische Fußballerin Caroline Seger hat auf ihrem linken Handgelenk die Koordinaten des Maracana-Stadions eingestochen. Hier gewann sie 2016 Olympia-Silber und beschrieb das später als "Höhepunkt meiner Karriere." Ob sich Seger nach erneutem Silbergewinn von Tokio und ihrem verschossenen Elfmeter im Finale nun auch die Koordinaten des International Stadium in Yokohama tätowieren lässt, ist nicht überliefert.
Sind tätowierte Fußballer besser?
Fußball und Tattoo - das ist durchaus auch ein spannendes Feld für die Wissenschaft. Für die Weltmeisterschaften der Männer (2018) und Frauen (2019) haben Forscher aus der Schweiz und aus Finnland sich angeschaut, wie und ob sich Tätowierungen auf die Performance der Spielerinnen und Spieler auswirkt. Interessant zunächst, dass bei Männern und Frauen die Teams aus Südamerika zu mehr als 50 Prozent sichtbar tätowiert waren, Teams aus Afrika und Asien dagegen nur zu weniger als zehn Prozent, europäische Teams zu rund 30 Prozent. Tätowierte Fußballer standen länger auf dem Platz, kassierten häufiger gelbe Karten und waren vom Elfmeterpunkt treffsicherer als Nicht-Tätowierte. Als möglicher Erklärungsansatz dienen andere Forschungsarbeiten, in denen sich Tätowierte als selbstbewusster, extrovertierter und narzisstischer beschrieben. Bei den Frauen gab es diese statistisch signifikanten Unterschiede zur Performance der Tätowierten übrigens nicht.
Welche Sportler sind am meisten tätowiert?
Beschäftigt hat die Wissenschaft auch, welche Sportler wie häufig tätowiert sind - wobei die Studienlage da mit nur einer Untersuchung an Elite-Universitäten der USA aus dem Jahr 2019 eher spärlich ist. Dieser Studie zufolge sind vor allem Schwimmerinnen und Schwimmer sowie Basketballerinnen und Basketballer tätowiert.
Die Bandbreite der Motive

Florian Wellbrock mit dem Brust-Tattoo: "Genieß Dein Leben ständig, Du bist länger tot als lebendig"
Auch in Tokio ließen sich dafür viele Beispiele finden: Zum Beispiel Basketballer Devin Booker (USA), der sich auf den linken Arm ein Autogramm von Basketball-Legende Kobe Bryant tätowieren ließ. Oder Basketballerin Natalie Achowna (Kanada), die sich mit Verweis auf ihre familiären Wurzeln zwei nigerianische Wörter tätowieren ließ. Schwimmer Adam Peaty (Großbritannien) hat sich auf den linken Oberarm den Löwen als Krafttier verewigen lassen. Schwimmerin Elena di Liddo (Italien) trägt in Erinnerung an ihren mit 16 Jahren verstorbenen Bruder ein Semikolon am Armgelenk. Und Schwimmer Florian Wellbrock hat sich im Andenken an seine 2006 verstorbene Schwester den Spruch "Genieß Dein Leben ständig, Du bist länger tot als lebendig" auf die Brust stechen lassen. Familiäre Referenzen, Erinnerung an besondere Momente, magisches Denken, die Verarbeitung persönlicher Schicksalsschläge - allein an diesen Beispielen wird die ganze Bandbreite der Motivation für Tätowierungen deutlich.
Tattoo und Rebellion in Japan
Möglich, dass sich diese Welt bald auch japanischen Athleten öffnen wird. Denn anders als es die "Kein Zutritt für Tätowierte"-Schilder vermuten lassen, entwickelt sich in Japan vor allem bei jungen Erwachsenen aus den Großstädten eine lebendige Tattoo-Kultur. Zahlen aus wissenschaftlichen Untersuchungen liegen noch nicht vor, aber Tattoo-Forscher beschreiben ein zunehmendes Aufbegehren der Jugend gegen die Tattoo-Stigmatisierungen älterer Generationen. Anders als in Westeuropa ist das Tattoo damit in Japan noch ein echter Ausdruck für Rebellion.
Selbst die japanische Nationale Tourismus-Behörde JNTO fährt mittlerweile einen Kurs, der Tattoos entstigmatisiert und damit gesellschaftsfähiger macht. Während der Olympischen Spiele veröffentliche JNTO auf seiner Website ein paar Verhaltenshinweise für tätowierte Touristen und veröffentlichte einen "Tattoo-freundlichen Location-Finder". Olympische Spiele in Tokio und Tätowierungen - das scheint also doch gut zusammengefunden zu haben.
Stand: 08.08.21 12:28 Uhr
Medaillenspiegel
Platz | Land | G | S | B |
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1. |
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39 | 41 | 33 |
2. |
|
38 | 32 | 18 |
3. |
|
27 | 14 | 17 |
4. |
|
22 | 21 | 22 |
5. |
|
20 | 28 | 23 |
6. |
|
17 | 7 | 22 |
7. |
|
10 | 12 | 14 |
8. |
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10 | 12 | 11 |
9. |
|
10 | 11 | 16 |
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