Frank Busemann blickt in eine Glaskugel (Montage) © picture alliance, fotolia.com Foto: Sascha Baumann, Klaus Eppele

Sprint

Busemanns Olympia-Orakel: Deutsche Sprinter brauchen beherzte Leistungen

Trayvon Bromell als Nachfolger von Usain Bolt - und dazu deutsche Chancen auf Halbfinals und Finals: In seinem Olympia-Orakel blickt unser Leichtathletik-Experte Frank Busemann auf die Sprint-Wettbewerbe der Sommerspiele von Tokio voraus. Am Freitag (30.07.2021) geht es dort los.

Männer

100 Meter

Nur eines ist sicher: Der Olympiasieger wird nicht Usain Bolt heißen. Das ist so sicher wie die Stille im Stadion. Die Stelle "Superstar der Leichtathletik" ist nach wie vor vakant, über die 100 Meter bieten sich die Protagonisten aber momentan nicht an. Weltmeister Christian Coleman konnte schnell laufen, nahm es aber mit den Dopingkontrollen nicht so genau, Justin Gatlin ist der Bad-Boy (ja, der läuft immer noch, aber bei den Trials hat er es endlich mal nicht geschafft), den mochten die Massen nicht als alten Heilsbringer der Massenhysterie, jetzt muss es halt Trayvon Bromell richten. Mit 1,73 Metern ist der noch kleiner als Coleman, aber in Tokio will der US-Meister der Größte werden. Und spuckt den Amis der Südafrikaner Akani Simbine nicht in die Suppe, kann das Podium wie in prä-jamaikanischen Zeiten stars-und-stripig sein. Deutsche Starter sucht man bei einer Norm, die mit 10,05 Sekunden knapp über dem deutschen Rekord liegt, vergebens.

200 Meter

Über die doppelte Sprintdistanz treffen die beiden Superstars in spe aufeinander: Noah Lyles (der auch schon mal von Flügelchen an den bunten Socken getragen wird) und der erst 17-jährige (!, in Worten: siebzehn, römisch: XVII) Erriyon Knighton, der schneller ist als Usain Bolt im gleichen Alter - und der war bekanntermaßen nicht so schlecht. Weltmeister und Dominator Lyles wird die Angriffe des Teenagers noch abzuwehren wissen, aber er sollte den Moment auskosten, lange wird das nicht mehr klappen.

Der US-amerikanische Sprinter Noah Lyles mit grünen Socken, an denen Flügel befestigt sind. © IMAGO / Belga

Die Socken des US-amerikanischen Sprinters Noah Lyles, an denen Flügel befestigt sind.

Erfreulich aus deutscher Sicht, dass Steven Müller die deutschen Farben auf der halben Stadionrunde vertritt. Für ihn wird das Ziel sein, sich bestmöglich zu verkaufen und in den Bereich seiner Saisonbestleistung zu kommen.

"Für Steven Müller wird das Ziel sein, sich bestmöglich zu verkaufen und in den Bereich seiner Saisonbestleistung zu kommen."

400 Meter

Auch über die Stadionrunde sieht es eher nach amerikanischen Meisterschaften als nach Olympia aus. Die Frage ist: Kann Weltrekordler und Olympiasieger Wayde van Niekerk in die Phalanx der Amis eindringen? Nach einer schwerwiegenden Verletzung im Jahr 2017 (Kreuzbandriss bei einem Prominenten-Touch-Rugby-Spiel - es gibt auch Sachen, die man lassen soll) kommt der Südafrikaner so langsam wieder zurück, aber langsam sind die Amis nicht. Für Marvin Schlegel aus Chemnitz geht es wie bei Müller um bestmögliche persönliche Performance.

110 Meter Hürden

Auch im Hürdensprint gibt es diesen einen Favoriten, für den alles andere als Gold eine herbe Enttäuschung sein wird. Grant "Wonderboy" Holloway, der Hallenweltrekordler und zweitschnellste Mann auf den 110 Metern kann sich nur selbst schlagen. Das nur nebenbei: Selten hat beim Laufen jemand seinen Kopf so still gehalten wie er. Heidi Klum hätte ihre wahre Freude daran. 110 Meter und zehn Hürden mit einem auf den Kopf gestellten Wasserglas – das könnte bei ihm auf dem Catwalk klappen. Und es sieht bei ihm so aus, als liefe er die ganze Zeit bergab. Kein Wunder, dass er in Tokio den Weltrekord angreifen kann. Perfektion in neuer Dimension. Dass Titel verpflichten, zeigt Olympiasieger und Weltmeister Omar McLeod, der Holloway am ehesten gefährden kann. Die zehn Hindernisse dürfen von niemandem unterschätzt werden. Ein kleiner Strauchler und der Fehler kostet Ewigkeiten.

Gregor Traber freut sich über den Einzug in das Final über 110m Hürden bei den European Championships

Für Gregor Traber sitzt laut Busemann die Halbfinal-Teilnahme in Tokio drin.

Für Gregor Traber geht es nach dem Fehlstart von den Deutschen Meisterschaften um Wiedergutmachung, und er kann bei dem richtigen Lauf ins Halbfinale einziehen.

400 Meter Hürden

Der Kampf der Giganten steht über die Langhürde an. Weltmeister und Weltrekordler Karsten Warholm und Vizeweltmeister Rai Benjamin werden sich einen erbitterten Kampf liefern, der in einem neuen Weltrekord enden könnte. Bisher konnte der Norweger Warholm alle Angriffe abwehren und geht als Favorit ins Rennen. Einzig bei Alison Dos Santos kann die Bronzemedaille schon graviert werden. Der Deutsche Meister Constantin Preis sagt ganz offen, dass er ins Finale will - und das könnte klappen, zeigt er seine Leistung, die er stetig verbessert. Vermessen wäre zu hoffen, dass er auf Platz zwei der ewigen deutschen Rangliste läuft, aber warum nicht? Luke Campbell und Joshua Abuaku versuchen wiederum, die 50 Sekunden zu unterbieten und mit etwas Glück ins Halbfinale zu kommen.

4x100 Meter-Staffel

Seit dem Ende von Usain Bolt hat auch der Glanz der jamaikanischen Staffel nachgelassen, die US-Boys könnten die Wechsel wie Grundschüler einer Pendelstaffel gestalten und es würde reichen. Das, was bei der deutschen Staffel zum Pfund in der Waagschale gehört, vernachlässigen die Teams mit "4 mal unter 10 Sekunden" oftmals. Gute Wechsel zeichnet auch die japanische Staffel aus. Für das junge Team um den Deutschen Meister Marvin Schulte geht es darum, das Finale zu erreichen, aber auch internationale Erfahrung zu sammeln, um langfristig erfolgreich zu sein.

4x400 Meter-Staffel

Die Langstaffel der Herren wird seit Jahrzehnten von den Amerikanern geprägt, mit ein paar Aussetzern ging die Goldmedaille immer in die Staaten jenseits des Atlantiks. Nominell schafft es keine Nation, mit dieser Wucht Viertelmeiler an den Start zu bringen. Die deutschen Männer haben ihre Chance beim letzten Meeting vor der Nominierung in Leverkusen eindrucksvoll genutzt und haben letztlich einen Startplatz der 16 besten Teams ergattert. Ziel muss die Verbesserung der dort gelaufenen Zeit sein (3:01,96 Minuten).

Frauen

100 Meter

Drei deutschen Athletinnen starten (vielleicht) über die 100-Meter-Sprintstrecke - oh, wie wunderbar!

Leider musste Lisa Mayer mit einer Bestleistung von 11,12 Sekunden kurz den Spielen verletzt absagen. Das ist nach einer so langen Reise der Ungewissheit und der wiedergekehrten Topform so bitter. Ob Nachrückerin Gina Lückenkemper auch die 100 Meter läuft oder sich nur auf die Staffel konzentriert, bleibt abzuwarten. Allerdings kommt Lückenkemper aus einer leichten Verletzung, machte im Pre-Camp aber einen guten Eindruck. Die deutsche Meisterin Alexandra Burghardt hat den gordischen Knoten der Zweifel durchschlagen und liefert 2021 in bestechender Form ab. Mit 11,01 Sekunden ist sie der zehn vor dem Komma bedrohlich nah gekommen, doch laden große Meisterschaften selten zu neuen Bestzeiten ein, wenn die Konkurrentin auf der Nebenbahn die spätere Olympiasiegerin ist. Da locker zu bleiben, ist nicht einfach. Tatjana Pinto (11,10) kommt auch pünktlich zu den Olympischen Spielen nach einigen Verletzungen wieder in Super-Schwung. Für alle drei ist das Halbfinale das Ziel.

Alexandra Burghardt © imago/Chai v.d. Laage

Alexandra Burghardt

Vorne geht die Post in diesem Jahr jamaikanisch ab. Nachdem sich die Hoffnung von US-Girl Sha'Carri Richardson, die neue Sprintikone zu werden, quasi in Rauch aufgelöst hat (nach Marihuana-Konsum wurde sie einen Monat gesperrt und vom Verband auch aus der Staffel gestrichen), müssen es jetzt wieder die grün-gelb-schwarzen Dauerbrenner von der Insel richten. Nähmaschine Shelly-Ann Fraser-Pryce stürmt mit zarten 34 Jahren in 10,63 Sekunden an die zweite Stelle der ewigen Weltbestenliste und muss sich dem Angriff der Mannschaftskollegin Elaine Thompson-Herah entgegensetzen.

200 Meter

Über die doppelte Sprintdistanz gibt es mit der in diesem Jahr extrem verbesserten Gabrielle Thomas ebenfalls die zweitbeste Leistung aller Zeiten auf der 200-Meter-Strecke. Darüber hinaus ballt sich gerade eine Heerschar von Athletinnen, die in diesem Jahr schon unter 22 Sekunden gelaufen sind, und damit kommen wir zum größten Rätsel der Spiele in Tokio. 400-Meter-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo beantragte eine Anpassung des Zeitplans, damit sie über 200 und 400 Meter an den Start gehen kann, aber dem wurde nicht stattgegeben. Tendenziell will sie den Titel über 200 Meter gewinnen, da sie diesen noch nicht hat. Kleiner Ausblick auf den August: Sie wird ihn auch nicht gewinnen, dafür ist die Konkurrenz in diesem Jahr zu groß und es ist fraglich, ob sie dieses Risiko dann eingeht und alles verliert, da 400-Meter-Vorlauf und das 200-Meter-Finale an einem Tag stattfinden.

Aus deutscher Sicht haben wir mit Rebekka Haase, Lisa Marie Kwayie und Jessica-Bianca Wessolly auch hier drei Athletinnen am Start, die allesamt mit Zeiten im Bereich ihrer persönlichen Bestleistungen ins Halbfinale kommen können.

400 Meter

Der Weg scheint bereitet für Shaunae Miller-Uibo - wenn sie denn will. Eigentlich möchte sie sich über 200 Meter mit Meriten schmücken, dabei ist es über die 400 Meter viel einfacher. Die Jahresschnellste Christine Mboma und die drittschnellste Beatrice Masilingi erhielten aufgrund zu hoher natürlicher Testosteronwerte keine Startberechtigung über die Stadionrunde, die Weltmeisterin von Doha, Salwa Eid Naser, ist wegen verpasster Dopingkontrollen gesperrt, die US-Newcomerin Athing Mu läuft die 800 Meter. Also: Shaunae, das Dingen liegt da auf dem Goldtablett bereit. Hol' es dir ab! Auch bemerkenswert: Rekordweltmeisterin und sechsfache Olympiasiegerin Allyson Felix nimmt an ihren fünften Olympischen Spielen teil.

Ein ähnliches Luxusproblem hat Corinna Schwab. Deutsche Jahresbeste über die 200 Meter, aber sie startet über die doppelte Strecke. Okay, Athletinnen in dem Laktatbereich stehen auf Schmerzen, und etatmäßig ist sie eine Viertelmeilerin, deshalb macht es Sinn. Mit einem beherzten Lauf kommt sie ins Halbfinale.

100 Meter Hürden

In Rio gingen die Medaillen alle an die US-Girls. Die Olympiasiegerin Brianna McNeal ist dieses Mal aufgrund einer unzulässigen Einflussnahme auf das Dopingkontrollverfahren gesperrt und nicht dabei, zudem ist die schnellste Amerikanerin Tonea Marshall bei den Trials nur Sechste geworden. Aber die anderen haben es in sich. Sie versuchen, angeführt von Weltrekordlerin Kendra Harrison, die für Puerto Rico startende Jasmine Camacho-Quinn in Schach zu halten, was ihnen bei der derzeitigen Konstellation nicht gelingen wird, da die in den USA geborene Camacho-Quinn in Konstanz und Penetranz von Top-Leistungen dieses Jahr unerreicht bleiben wird.

Für Deutschland startet die Meisterin Ricarda Lobe, die alles daran setzen wird, die verletzte Pamela Dutkiewicz-Emmerich und die #schnellstemama der Welt, Cindy Roleder, zu vertreten. Vielleicht knackt sie in Tokio zum Saisonhöhepunkt die 13-Sekunden-Marke, was mit ein wenig Glück den Einzug ins Halbfinale bedeuten könnte.

400 Meter Hürden

Der Kampf der Gigantinnen steht über die Langhürde an. Olympiasiegerin, Weltmeisterin und Ex-Weltrekordlerin Dalilah Muhammad und Neu-Weltrekordlerin Sydney McLaughlin werden sich einen erbitterten Kampf liefern, der in einem neuen Weltrekord enden könnte. Aber anders als bei den Männern stört die traute Zweisamkeit die Holländerin Femke Bol, die ebenfalls im Goldroulette ein Wörtchen mitreden will. Das wird ein vorzüglicher Showdown. Die deutsche Meisterin Carolina Krafzik pulverisierte mit einem ungeheuerlichen "Ich-will-nach-Tokio"-Kraftakt ihre Bestleistung, scheint jetzt irgendeinen Knoten gelöst zu haben, weil sie sich in den neuen Gefilden mit der dünnen Luft zu stabilisieren scheint. In der Form kann sie locker ins Halbfinale einziehen.

4x100 Meter-Staffel

Da könnte was gehen. Oder soll man schreiben, da hätte was gehen können? Neben Lisa Mayer muss die deutsche Sprintmannschaft auch auf Lisa Nippgen verzichten, die sich ebenfalls eine leichte Verletzung zugezogen hat. Aber die deutschen Mädels sind auch im Quartett in bestechender Form. Jamaika vorn ist weg. Ganz weit. Für alle. Die Amerikanerinnen stopfen die Lücke mit Silber, aber dann entscheiden Speed (haben sie bewiesen), Teamgeist (haben sie), Technik (haben sie auch), Nervenstärke (sie haben nichts zu verlieren, sie können nur gewinnen) und Lust (das haben sie aber sowas von). Und vielleicht kommen ja unterwegs irgendwelche fremden Pinne abhanden und schwupps steht auf einmal GERMANY auf der Medaille. So einfach die Theorie. Aber ich glaube, die Mädels haben keinen anderen Plan als diesen.

4x400 Meter-Staffel

Auch bei den Damen ist die Viertelmeiler-Staffel der Amerikanerinnen das Maß der Dinge. Sie zu schlagen wird nur gehen, wenn sie zwei- bis drei Mal den Stab verlieren oder disqualifiziert werden. Jamaika folgt und scharrt eine Meute hinter sich. Für das deutsche Quartett um die deutsche Meisterin Corinna Schwab geht es um eine ansprechende Zeit und die Nominierung zu bestätigen.

4x400 Meter-Mixed-Staffel

Die jüngste Disziplin sollte ursprünglich mal eine taktische Komponente beinhalten, aber es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass die profitabelste Aufstellung Mann-Frau-Frau-Mann ist. Die Aufstellung der Polen bei der WM vor zwei Jahren mit den beiden Herren zu Beginn war ein Spektakel, hat sich aber leider nicht ausgezahlt. Aufgrund schon erwähnter Dichte im Topbereich wird die amerikanische Staffel nicht zu schlagen sein. Das deutsche Quartett kann in diesem Jahr sogar mit etwas Glück das Finale erreichen, wenn es über sich hinauswächst.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 29.07.2021 | 00:50 Uhr

Stand: 29.07.21 10:50 Uhr

Das ist Frank Busemann

Geboren:
26. Februar 1975 (Recklinghausen)
Disziplinen:
Zehnkampf, Hürdensprint
Sportliche Erfolge:
Olympia-Silber 1996 (8.706 Punkte)
WM-Bronze 1997 (8.652 Punkte)
U23-Europameister 110 m Hürden 1997 (13,54 Sek.)
Juniorenweltmeister 110 m Hürden 1994 (13,47 Sek.)
Auszeichnungen:
Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis 2004
Sportler des Jahres 1996
Karriereende:
23. Juni 2003
Karriere nach der Karriere:
Vorträge/Seminare zum Thema Motivation
Buch-Autor
ARD-Leichtathletik-Experte
(Morgenmagazin, Das Erste, sportschau.de)

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge USA USA 39 41 33
2. Flagge Volksrepublik China CHN 38 32 18
3. Flagge Japan JPN 27 14 17
4. Flagge Großbritannien GBR 22 21 22
5. Flagge Russisches Olympisches Komitee ROC 20 28 23
6. Flagge Australien AUS 17 7 22
7. Flagge Niederlande NED 10 12 14
8. Flagge Frankreich FRA 10 12 11
9. Flagge Deutschland GER 10 11 16
Stand nach 339 von 339 Entscheidungen.

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