Die amerikanische Turnerin Simone Biles wird getröstet. © picture alliance / AA

Hintergrund

Biles und Osaka: Wenn der Druck unerträglich wird

von Bettina Lenner

Für die beiden Superstars Naomi Osaka und Simone Biles wurde bei den Olympischen Spielen der Druck zu groß, wog die Last der Erwartungen zu schwer. Doch wie kann der Weg aus der Krise aussehen? Sportschau.de hat eine Sportpsychologin gefragt.

Als die Qual ein Ende hatte, flossen bittere Tränen. Bei Naomi Osaka, der viermaligen Grand-Slam-Siegerin im Tennis, die das olympische Feuer entzündete und eins der Gesichter dieser Spiele sein sollte. Und bei Jahrhundert-Turnerin Simone Biles aus den USA, die in Rio viermal Gold geholt und ihren Sport mit einzigartigen Elementen auf ein neues Niveau gehievt hatte.

Kein Start im Einzel-Mehrkampf von Biles in Tokio

Zwei Superstars, ein Schicksal, und ein tragisches dazu: Die Seele spielte nicht mehr mit. "Ich habe definitiv das Gefühl, dass es eine Menge Druck gab. Vielleicht war doch alles ein bisschen zu viel für mich", gab Japans große Goldhoffnung Osaka zu Protokoll. Ein paar Kilometer entfernt erklärte Rekord-Weltmeisterin Biles nach ihrem vorzeitigen Ausstieg aus dem olympischen Mannschaftsfinale: "Ich musste tun, was richtig für mich ist und mich auf meine mentale Gesundheit fokussieren. Wenn ich turne, habe ich weniger Selbstvertrauen, weniger Spaß und bin nervöser. Es ist wie ein Kampf mit Dämonen." Am Mittwoch (28.07.2021) sagte die Amerikanerin dann auch ihren Start für den Einzel-Mehrkampf ab. Ob sie an den einzelnen Geräten starten wird, ist offen.

Sportpsychologin: "Ein immenser Druck von außen"

Die Angst vor dem Versagen, die Furcht vor den riesigen Ansprüchen lähmte Biles' Körper und blockierte den Kopf. "Sie weiß selbst, dass sie Übermenschliches leistet und die Beste ist. Und sie weiß, was die Nation von ihr erwartet. Alles, was sie gewinnt, ist selbstverständlich. Das ist ein immenser Druck von außen", sagt Sportpsychologin Nadine Volkmer, die in Tokio das deutsche Beachvolleyball-Duo Karla Borger und Julia Sude begleitet, im Gespräch mit Sportschau.de.

"Kein Mensch kann immer funktionieren"

Osaka, die erst vor wenigen Wochen bei den French Open vorzeitig zurückgezogen hatte und von depressiven Phasen berichtete, bekannte nach dem unerwarteten Ausscheiden in Tokio. "Ich bin nach jeder Niederlage enttäuscht, aber ich habe das Gefühl, diese nervt mehr als die anderen."

Für Mentalcoach Volkmer liegt das auf der Hand. "Die Frage ist ja auch: Ist es eine gesunde Zielsetzung, bei allen Schwierigkeiten im Vorfeld Gold zu holen? Es ist sicher zielführender, die Erwartungshaltung runterzuschrauben. Viele Menschen verfolgen die Olympischen Spiele, die kennen die Vorergebnisse gar nicht. Aber sie erwarten, dass die Sportler funktionieren. Aber kein Mensch kann immer funktionieren. Es widerspricht unserer Natur."

Perspektivwechsel ist wichtig

Sportlern fällt es naturgemäß schwer, das zu akzeptieren. Ihren Fans auch. "Aber man sollte versuchen, die Dinge in Relation zu bringen. Am besten schon im Vorfeld des Wettkampfs oder eines Turniers", rät die Sportpsychologin aus Stuttgart. Wichtig sei ein Perspektivwechsel. Die Bedeutung und die Schwere aus dem Thema herauszunehmen. "Man könnte ein Worst-Case-Szenario durchspielen. Was wäre, wenn ich die Goldmedaille nicht hole, die alle von mir erwarten? Die Nation wäre ein paar Tage lang unglücklich, aber beim Blick auf andere Ereignisse, die in der Welt geschehen, könnte man zum Beispiel feststellen, dass es einem gesundheitlich gut geht und den Wert daran bemessen."

Schwerer Weg aus der Krise

Osaka ist nach ihrer überraschenden Achtelfinal-Niederlage gegen die Tschechin Marketa Vondrousova raus aus dem olympischen Tennisturnier. Bei Biles ist nach den Eindrücken der vergangenen Tage schwer vorstellbar, dass sie im Ariake Gymnastics Center noch einmal an die Geräte geht. Einen Weg aus der Krise zu finden, dürfte für beide Sportlerinnen ein langer Prozess werden.

Sportpsychologin Nadine Volkmer im Beachvolleyball-Stadion bei den Olympischen Spielen in Tokio. © privat/Nadine Volkmer

Sportpsychologin Nadine Volkmer in Tokio.

Was rät die Expertin? "Man kann nichts raten", sagt Volkmer. "Nur, wenn die Sportler selbst auf die Lösung kommen und die Entscheidung fällen, können sie diese auch wirklich akzeptieren. Aber man könnte in so einer Situation schauen, welche Werte für den Athleten hinter dem Sport stecken. Geht es um Selbstverwirklichung, Selbstwertgefühl, ein finanziell gutes Leben usw.? Wie weit sind diese Werte ein stärkeres Argument für den Sport als dagegen? Es ist nichts gewonnen, wenn der Mensch mit Blick auf sein weiteres Leben daran zerbricht."

Sport ist wichtig - aber nicht alles

Finanziell haben die beiden Superstars längst ausgesorgt. Was ist ihnen ihr Sport wert? Was gibt er ihnen? Was treibt sie an, welche Ziele stecken sie sich? Fragen, die beide Athletinnen nun für sich werden beantworten müssen. Es gebe mehr im Leben als Turnen, konstatierte Biles am Dienstag (27.07.2021) - und kennt damit vielleicht schon die Antwort.

Die Ausnahme-Turnerin ist 24, Osaka gerade einmal 23 Jahre alt. Sportwissenschaftlerin Volkmer ist sicher, dass beide weiterhin Leistungssport betreiben können - wenn sie denn wollen. "Entscheidend ist für mich, dass ihnen andere Blickwinkel aufgezeigt werden. Dass sie wissen: Sport ist gerade der wichtigste Punkt in ihrem Leben, aber es darf nicht im Denken verankert sein, dass das Leben nur daraus besteht. Selbst wenn es so aussieht."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 30.07.2021 | 08:00 Uhr

Stand: 28.07.21 08:28 Uhr

Medaillenspiegel

Aktueller Medaillenspiegel
Platz Land G S B
1. Flagge USA USA 39 41 33
2. Flagge Volksrepublik China CHN 38 32 18
3. Flagge Japan JPN 27 14 17
4. Flagge Großbritannien GBR 22 21 22
5. Flagge Russisches Olympisches Komitee ROC 20 28 23
6. Flagge Australien AUS 17 7 22
7. Flagge Niederlande NED 10 12 14
8. Flagge Frankreich FRA 10 12 11
9. Flagge Deutschland GER 10 11 16
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