Die deutsche Sprinterin Irmgard Bensusan jubelt. © Oliver Kremer / DBS Foto: Oliver Kremer

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Paralympics: Mein Weg - Irmgard Bensusan

Ich bin Irmgard Bensusan, 30 Jahre alt, Sprinterin bei Bayer Leverkusen und im deutschen Team bei den Paralympics in Tokio. Vor fünf Jahren in Rio habe ich drei Silbermedaillen gewonnen. Die bedeuten mir viel mehr als jede Medaille, die ich vielleicht bei den "normalen" Olympischen Spielen hätte holen können. Die Medaillen stehen für das Hinfallen, das Aufstehen, die harte Arbeit. Für die kompletten zwölf Jahre seit meinem Unfall.

Andere Leute sehen meine Behinderung oft kaum. Ich kann es am besten so beschreiben: Wenn Du lange sitzt und dann aufstehst und Dein Fuß eingeschlafen ist und Du damit versuchst zu laufen…  Das Gefühl habe ich. Ein eingeschlafener Fuß, der nie wach wird. Es ist eine Nervenschädigung im rechten Bein. Bei Konkurrentinnen, die mit Prothesen antreten, sieht man die Behinderung deutlicher. Tatsächlich aber haben die beim Laufen einen Vorteil. Besonders in der Schlussphase eines Rennens fliegen die "Blade Runner".

Aufgewachsen in Johannesburg

Ich komme aus Südafrika, wurde in Pretoria geboren und bin in Johannesburg aufgewachsen. Meine Mutter ist in Hannover geboren und meine Patentante heißt Irmgard - daher mein Name! Meine ältere Schwester hat Leichtathletik getrieben. Bei einem ihrer Wettkämpfe hat meine Mutter gesagt: 'Versuche es mal!' Ich bin gelaufen und habe gewonnen. Wenig später war mein Ziel und mein Traum, es mal zu den Olympischen Spielen zu schaffen. Meine Spezialdisziplin waren die 100 Meter Hürden. Aber dann brach mein ganzes Leben zusammen.

"Ich habe so laut geschrien, ganz Pretoria muss das gehört haben"

Als 18-Jährige habe ich mich bei den nationalen Meisterschaften für mein Rennen aufgewärmt. Jemand ist vor mir gelaufen, ich habe die Konzentration verloren, mein Fuß hat die Hürde getroffen und ich bin hingefallen und mein komplettes Knie ist nach hinten weggebrochen. Das Knie war schlimm verletzt, das Kreuzband gerissen, das Bein gebrochen, der Nerv gerissen. Ich konnte nicht aufstehen. Und dann habe ich mich umgedreht und habe meine Knochen und mein Knie gesehen. Ich habe so laut geschrien, ganz Pretoria muss das gehört haben.

Im Krankenhaus hat eine Ärztin mit einem Kugelschreiber meinen Fuß berührt und gefragt: 'merkst Du das?' Ich habe nichts gespürt. Zunächst wurde mir gesagt, dass nach der OP alles wieder gut werde. Dann sprachen die Ärzte von sechs Wochen, später von sechs Monaten. Und dann hat mir ein Arzt gesagt, dass ich nie wieder so laufen kann wie vorher.

Es ging mir wahnsinnig schlecht. Ich habe mich abgeschottet. Mein ganzes Leben hatte sich nur um Leichtathletik gedreht, die  Universität hatte ich mir nur nach dem Kriterium ausgesucht, wo ich am besten trainieren und meinen Olympiatraum wahrmachen kann. Das war jetzt alles weg.

Wechsel nach Deutschland - Sehnsucht nach dem "Bushveld"

2012, drei Jahre nach dem Unfall, hatte ich ein riesiges Tief. Letztlich habe ich meine frühere Trainerin angerufen und gesagt: 'Ich liebe das Laufen, ich will wieder anfangen zu laufen.'

Regional war ich dann klassifiziert in der Startklasse T44 und so habe ich wieder von Rio und den Paralympics geträumt. Dann hat mir eine Gutachterin auf nationaler Ebene gesagt: 'Du bist nicht behindert genug.' Dann hat meine Mutter gesagt: 'Ich bin Deutsche, wir versuchen es in Deutschland!' Sie hat dann zum Bundestrainer Kontakt aufgenommen, Jörg Frischmann von Bayer Leverkusen wurde eine große Hilfe … und in Deutschland wurde ich klassifiziert! Also bin ich nach Leverkusen gezogen.

Ich bin in Deutschland  angekommen und konnte kein Wort außer "guten Tag". Meine Familie fehlt mir sehr und das "Bushveld". Die Insekten, das Donnerwetter, die Geräusche… aber ich fühle mich hier wohl.

Mit "Schluffi" nach Rio

Mein rechtes Bein heißt "Schluffi", den Begriff hat mein Trainer Karl-Heinz Düe erfunden. Am Anfang hat er mich, wenn ich zu langsam war, "Schluffi" genannt. Später kam es dazu, dass nur der Fuß so heißt. Wenn Karl-Heinz sagt: 'Du solltest schneller sein, sage ich: das war der Schluffi!'

Mit der Unterstützung der Trainer in Leverkusen habe ich es tatsächlich 2016 zu den Paralympics geschafft und dort die Silbermedaillen über 100, 200 und 400 Metern gewonnen. Die Stadionrunde bin ich dort erstmals unter 60 Sekunden gelaufen. Meine ganze Familie war im Stadion, es war so laut, ich dachte, die rennen neben mir!

Ungewissheit belastet Vorbereitung auf Tokio

Die Vorbereitung auf Tokio war schwer: Finden die Spiele statt, finden sie nicht statt?! Ich habe mir gesagt: Ich trainiere jetzt so, dass sie stattfinden, da habe ich nichts zu verlieren. Aber es ist psychisch anstrengend. Ich trete auf den 100 und 200 Metern an, meine Ziele möchte ich nicht verraten.

Wenn andere Athletinnen über Hürden laufen, muss ich noch immer wegschauen. Dennoch: Ich bin sehr froh, dass mir dieser Unfall passiert bist. Das hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Der Weg, den ich durchgemacht habe, hat mich geprägt und die Erfahrungen haben mich bereichert. Und: Ich möchte den Leuten zeigen, dass Para-Sport nicht nur mit Federn oder Rolli stattfindet. Es gibt viele andere Behinderungen. Ich habe vier, fünf Jahre verloren. So etwas möchte ich wirklich verändern, indem ich meine Geschichte erzähle.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Paralympics 2020 | 24.08.2021 | 09:05 Uhr

Stand: 13.08.21 15:36 Uhr