Vincent Fichot © ARD Foto: Julia Linn

Der Japan-Reiseblog von Julia Linn

Hungerstreik neben dem Olympia-Stadion

Seit 13 Tagen hat Vincent Fichot nichts gegessen. Tag und Nacht verbringt er vor dem Bahnhof Sendagaya - direkt gegenüber des Toyko Metropolitan Gym, wo die Olympischen Tischtennis-Wettbewerbe ausgetragen werden, und in Nachbarschaft des Nationalstadions. Den Platz hat er bewusst gewählt.

Sein Tag beginnt um 4.30 Uhr. Wenn der Bahnhof öffnet, wird er wach. Vincent Fichot ist hier eigentlich nie allein, erzählt er. Auch als ich ihn am Vormittag besuche, ist richtig viel los - Freunde, die nach ihm schauen, aber auch Fremde, die von ihm gelesen haben und sogar das gleiche Schicksal teilen.

Kinder von der eigenen Mutter "entführt"

Vincent Fichots Geschichte beginnt vor drei Jahren. Die Ehe kriselt, er schlägt seiner Frau eine einvernehmliche Scheidung vor. Sie will nicht darüber sprechen. Als er wenige Wochen später von der Arbeit nach Hause kommt, sind sein Sohn Tsubasa (3) und seine Tochter Kaeda (11 Monate) verschwunden. Was der Vater am 10. August 2018 erlebt hat, lasse ich ihn hier selbst erzählen:

"Ich bin in die Kinderzimmer gegangen - alles war leer. Ich habe sofort meinen Anwalt angerufen. Er hat mir erklärt, dass meine Kinder entführt wurden und ich sie wahrscheinlich nie wieder sehen werde. Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Ich war zu dem Zeitpunkt seit zwölf Jahren in Japan, ich hatte nie von so etwas gehört. Ich sagte meinem Anwalt: 'Wir müssen die Polizei rufen, die müssen ermitteln.' Er sagte: 'Die Polizei interessiert das nicht.' Und er hatte Recht. Ich war viermal bei der Polizei wegen Kindesentführung, und sie haben sich geweigert, meine Anzeige aufzunehmen. Dabei bin ich nicht geschieden, ich habe noch all meine Rechte und Pflichten als Vater - genau wie meine Frau. Ich habe keine Ahnung, wo meine Kinder sind. Ich weiß ich nicht mal, ob sie leben oder nicht."

Japanische Sorgerechtsregeln ad absurdum

Vincent Fichot beim Hungerstreik (l.) © ARD Foto: Julia Linn

Die drei anderen Männer teilen mit Fichot (l.) das gleiche Schicksal. Sie sind aus Hokkaido gekommen, um ihn zu unterstützen.

Das Schicksal von Vincent Fichot und seinen Kindern ist kein Einzelfall: In Japan gibt es kein gemeinsames Sorgerecht. Wenn sich Eltern trennen, geben die Gerichte meist dem Elternteil das alleinige Sorgerecht, bei dem sich gerade die Kinder aufhalten. Entführung durch den Vater oder die Mutter ist in Japan ein weit verbreitetes Problem. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass 150.000 Kinder betroffen sind. Ehrlicherweise wusste ich das bis vor wenigen Tagen noch nicht - und schäme mich etwas dafür.

Er hat alles versucht, erzählt Vincent Fichot. Er war vor Gericht, mit anderen Eltern beim UN-Menschenrechtsrat und vor dem Europäischen Parlament. Dort wurde eine Resolution verabschiedet, die Japan dazu bringen sollte, die Sorgerechtsregeln zu ändern. Vor zwei Jahren traf er den französischen Präsidenten Macron, sprach danach mit dem japanischen Premier. Ohne Erfolg.

Hungerstreik als letzte Chance

"Das hier ist meine letzte Chance. Es ist eine kalkulierte Entscheidung, ich habe seit sechs Monaten darüber nachgedacht. Ich gehe diesen Weg nicht aus Verzweiflung, sondern um meine Pflichten gegenüber meinen Kindern zu erfüllen."

Vincent Fichot beim Hungerstreik (r.) © ARD Foto: Julia Linn

Die Olympische Wettkampfstätte ist in Sichtweite - ein Symbol, sagt Vincent Fichot.

Vincent Fichot erzählt das alles sehr fokussiert. Er will hungern bis seine Kinder zurück bei ihm sind, er würde sich für sie opfern, sagt er. Aber er will das nur langsam tun, denn er hat Hoffnung, Tsubasa und Kaeda wiederzusehen. Durch den Hungerstreik sei die Chance größer denn je. Macron, der zur Olympia-Eröffnungsfeier erwartet wird, hat angekündigt, mit Japan über Kindesentführungen zu sprechen.

Ich frage Vincent Fichot, ob er oft daran denkt, was er tun würde, wenn er seine Kinder wiedersehen könnte. "Ja", sagt er mit Tränen in den Augen. Ich frage nicht weiter, es ist schon anstrengend genug für ihn. Nach unserem Gespräch ist er sichtlich erschöpft und schläft sofort ein.

Seine Geschichte und die seiner Kinder lässt mich sprachlos zurück. Ich merke immer stärker: Die Olympischen Spiele sind viel mehr als ein großes Sportevent - und die vielen Seiten Olympias sind oft keine leichte Kost.

 

ARD-Reporterin Julia Linn

Julia Linn

Zur Person: Julia Linn arbeitet für den WDR und im ARD-Studio Tokio und berichtet hier täglich von ihren Erfahrungen bei den Olympischen Spielen in Tokio.

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 22.07.2020 | 09:05 Uhr

Stand: 22.07.21 19:25 Uhr

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