Blick auf ein Restaurant in Tokio © ARD/Linn

Der Japan-Reiseblog von Julia Linn

Corona-Notstand in Tokio oder: Keine Spur von Pandemie-Gefühl

Die Corona-Lage in Tokio spitzt sich zu, aber im Alltag ist das kaum zu spüren. Das Leben in der Olympia-Stadt geht trotz steigender Fallzahlen einfach weiter.

Schon den fünften Tag in Folge liegen die Corona-Zahlen in Tokio über 3.000 Neuinfektionen. Das ist besorgniserregend, aber trotzdem: Auch ich erwische mich dabei, zwischendurch zu vergessen, dass die Lage wirklich ernst ist. Denn ein richtiges Pandemie-Gefühl kommt in Tokio einfach nicht auf.

Eigentlich gilt noch der Notstand, das heißt: kein Alkohol, keine geöffneten Restaurants nach 20 Uhr - und keine Zuschauer bei den Olympischen Spielen. In der Realität findet aber nur Letzteres statt. Wer abends durch Tokio läuft, hat selten ein Problem, einen Ort zum Essen gehen oder Bier trinken zu finden. Viele Gastronomen halten sich wegen drohender Einbußen nicht an die Notstandsregeln. Das Ergebnis: volle Izakayas. Das sind kleine Kneipen, in denen es Drinks und jede Menge Kleinigkeiten zum Essen gibt - die wohl beliebteste Gastroform Japans. Abstand halten ist auf so engem Raum nahezu unmöglich, Sake und Bier fließen. Notstand? Noch nie gehört.

Skytree: Außen hui, innen pfui

Nur an den offensichtlichen und eher touristischen Orten halten sich die Menschen an die Notstandsregeln für die Gastro, etwa rund um den höchsten Aussichtsturm der Stadt, den Skytree. Hier ist ab 20 Uhr tote Hose, so wie es sich die Regierung vorstellt.

Mehrere Menschen stehen in einem hohen Turm vor einer gläsernen Fensterfront, im Hintergrund sind die Lichter der japanischen Hauptstadt Tokio im Dunkeln zu sehen. © ARD Foto: Julia Linn

Gruppenkuscheln auf dem Glasboden. Die Delta-Variante lässt grüßen.

Aber: Im Skytree selbst ist dafür wieder Superspreader-Alarm. Gestern Abend war ich dort, wollte einmal aus 450 Meter Höhe über die Lichter der Stadt gucken. Eine Attraktion dort habe ich aber ausgelassen: den Glasboden.

Auf wenigen Quadratmetern knubbeln sich dort zahlreiche Menschen, darunter auch einige, die offenbar wegen der Olympischen Spiele hier sind. Sie tragen ihre Akkreditierungen, ihre Olympia-Pässe, gut sichtbar um den Hals. Mit etwas Sicherheitsabstand steht eine Aufpasserin daneben, sie hält ein Schild: "Keep the distance“ - "Abstand halten". Allein: Das funktioniert nicht.

Anti-Corona-Maßnahmen ohne Plan

Ich habe nicht das Gefühl, dass der Notstand hier in Tokio so richtig viele beeindruckt. Auch ein medizinischer Berater der Regierung nannte das fehlende Krisenbewusstsein "das größte Risiko“. Ich glaube, ich weiß, wovon er redet.

Aber auch die Verantwortlichen selbst scheinen mit der Lage überfordert. Vor drei Tagen habe ich einen Mann getroffen, der die Anti-Corona-Maßnahmen in Tokio koordiniert - oder besser gesagt koordinieren soll. Er sagt, niemand habe mit so hohen Zahlen gerechnet. Man wisse nicht, wie sie entstehen konnten. Weil die Ursachen unklar seien, sei es jetzt auch besonders schwierig, die richtigen Maßnahmen zu finden.

Uff. Nicht gerade beruhigend, wenn das jemand sagt, dessen Job es ist, sich um Anti-Corona-Maßnahmen zu kümmern. Vor allem, wenn eigentlich doch relativ klar ist, woher die hohen Zahlen kommen: Die hochansteckende Delta-Variante greift in Tokio um sich und macht mehr als 70 Prozent der Neuinfektionen aus. Genau so hatten es übrigens Fachleute schon vor Beginn der Olympischen Spiele prophezeit.

Exklusiv bei Olympia: Corona-Feeling

Während ich das hier aufschreibe, wird mir doch ganz anders. Ich sitze am anderen Ende der Welt, die Corona-Zahlen steigen und bei solchen Experten fühle ich mich nicht gerade sicher. Aber ich weiß auch: Morgen, wenn ich in der Stadt unterwegs bin, sind diese Gedanken wieder ganz schnell verflogen, denn das Leben geht hier ja ganz normal weiter. Das Pandemie-Gefühl entsteht dann wieder nur beim traurigen Anblick der leeren Zuschauerränge in den Hallen und Stadien der Olympischen Spiele.

ARD-Reporterin Julia Linn

Zur Person: Julia Linn arbeitet für den WDR und im ARD-Studio Tokio und berichtet hier täglich von ihren Erfahrungen bei den Olympischen Spielen in Tokio.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Sportschau | Olympia Tokio 2020 | 02.08.2021 | 02:00 Uhr

Stand: 01.08.21 16:00 Uhr